Schreckgespenst Digitalisierung

Ein Kommentar von Sonja Reimann

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Blendende Stimmung statt Jammern ist angesagt. Selten war die Verfassung der deutschen Baubranche so gut wie derzeit – und ein Ende ist so schnell nicht absehbar. Sogar der Boom der Wiedervereinigung Anfang der 90er-Jahre wird noch getoppt. Das Hoch, das bislang vor allem durch den Wohnungsbau getragen wurde, wird inzwischen nicht mehr vom Straßen- und Tiefbau wieder ausgebremst. Auch dort gibt es viel zu tun. So positiv diese Entwicklung ist, es liegen auch Schatten auf ihr.

Inzwischen wird die Schere beim Fachpersonal immer größer. Stellen können nicht adäquat besetzt werden. Firmen tun sich schwer, Azubis zu finden und binden. Das Personalproblem zieht weitere Kreise. Um schnell die Aufträge abarbeiten zu können, dauert es immer noch viele zu lange, bis die genehmigten Mittel auch verbaut werden können. Baufirmen müssen die Personalpolitik in der öffentlichen Verwaltung der letzten Jahre ausbaden – ausgerechnet jetzt – der Zeitpunkt könnte nicht ungünstiger sein. Und dann fehlen auch noch die Fachkräfte, wenn es darum geht, die nächsten Herausforderungen im Zuge von Industrie 4.0 anzugehen – es gilt als das Konzept der Zukunft. Wer hier nicht rechtzeitig die Weichen stellt, droht abgehängt zu werden, mahnen Bundesregierung, Wirtschaftsverbände und Medien unisono. Umso überraschender ist nun das Ergebnis einer Studie von Roland Berger, für die 40 Bauunternehmen und Bauzulieferer befragt wurden, wie sie die Potenziale der Digitalisierung einschätzen und wie weit sie mit der Umsetzung sind. Zwar geht die Mehrheit davon aus, dass sich die digitale Transformation auf die gesamte Wertschöpfungskette auswirkt und die Baubranche verändern wird. Allerdings: Die Erkenntnis läuft ins Leere – viele kleine Betriebe haben die digitale Vernetzung noch nicht auf dem Schirm. Sie schrecken die hohen Investitionskosten ab und verharren der Dinge, die da auf sie zukommen.

Das mag daran liegen, dass sich mancher schon am Begriff reibt, der im Kontext von Internet der Dinge gebraucht wird – der eigentlichen Grundlage für intelligente Fabriken. Dass nicht jeder einen Zugang zu Industrie 4.0 findet, verwundert kaum – schließlich geht es nicht um ein Produkt, das man käuflich erwerben kann, sondern um ein nicht greifbares Konzept, das auf digitalen Technologien beruht, die Abläufe und Prozesse so miteinander vernetzt, dass sich Kostenvorteile und Effizienzpotenziale in der Wertschöpfungskette ergeben. Die Digitalisierung stellt bisherige Strukturen auf den Kopf und erfordert gänzlich eine neue Herangehensweise. Angesichts dessen sind viele verunsichert, weil sie nicht wissen, wie sie das Ganze anpacken sollen. Das kann zu einer fatalen Entwicklung führen, denn die digitale Transformation macht den Faktor Zeit zu einem K.-o.-Kriterium – inzwischen halten neue Produkte und Technologien viel schneller auf den Markt Einzug als vor einigen Jahren.

Welche Folgen Industrie 4.0 für unsere Gesellschaft haben wird, mag noch niemand abzusehen. Trotz Auftragsboom sollten sich Firmenchefs von Bauunternehmen damit auseinandersetzen – denn noch immer bremst gerade ihre Branche die viel zu geringe Produktivität, die gegenüber anderen Industriezweigen aufholen muss. Dabei ist schon vieles im Gange, um die Bauwirtschaft digitaler zu gestalten – etwa im Bereich von Software oder bei der BIM-Methodik. Auch die Vernetzung von Baumaschinen macht große Fortschritte. Das Entwicklungspotenzial ist bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Nur wird es immer schwieriger, den Anschluss nicht zu verpassen. Und das könnte sich dann bei der nächsten Konjunkturdelle auswirken.

November/Dezember 2016