„Nie die Lust aus den Augen verlieren“

Er gilt als „Mister Tagesthemen“ – mit der Nachrichtensendung in der ARD wird Ulrich Wickert noch immer assoziiert. Sie moderierte der Journalist von 1991 bis 2006 – als ARD-Korrespondent berichtete er aus Washington, New York und Paris. Bundeskanzler wie Helmut Schmidt, Helmut Kohl oder Gerhard Schröder gehörten zu seinen Interviewpartnern, aber auch überraschende Begegnungen wie mit dem Bruder des letzten Kaisers von China. Heute schreibt er Bücher über Frankreich und Krimis oder zuletzt ein Selbstportrait mit dem Titel „Nie die Lust aus den Augen verlieren“. Das treibt den 75-Jährigen bis heute an. Mit ihm sprachen Fred Cordes, Vorsitzender der Geschäftsführung der Zeppelin Baumaschinen GmbH, und die Redaktion des Deutschen Baublatts, über das Weltgeschehen, seine Zeit bei den Tagesthemen und seine Beobachtungen als Korrespondent.

„Nie die Lust aus den Augen verlieren“ – das treibt Ulrich Wicker an und so heißt der Titel seines neuesten Buches, ein Selbstportrait, das anlässlich seines 75. Geburtstags 2017 erschienen ist. Fotos: Zeppelin/Deutsches Baublatt

Deutsches Baublatt: Wenn Sie die Gelegenheiten hätten, einmal Donald Trump zu interviewen: Was würden Sie ihn denn fragen wollen?

Ulrich Wickert: Den könnten Sie fragen, was Sie wollen. Da bekämen Sie nur eine spontane Antwort aus dem Bauch heraus, die ihm gerade einfällt, aber keine aus dem Kopf. Heute würde er das sagen, morgen vielleicht schon wieder das Gegenteil davon behaupten. Man kann sich nicht sicher sein, ob er es wirklich so meint. Darum weiß ich gar nicht, ob ich ein Gespräch mit ihm führen möchte. Es gibt Personen, da ist ein Interview sinnlos – etwa mit Personen, die eine rechtsextreme Gesinnung haben. Sie wollen nur rechtsextreme Ideologie verbreiten.

Fred Cordes: Donald Trump laufen reihenweise die Leute davon. Nach wie vor behauptet er, dass sich genügend um einen Job bei ihm reißen. Glauben Sie, dass Trump immer noch so viel Rückhalt hat?

Ulrich Wickert: Vielleicht bekommt er keinen Banker mehr von Goldman-Sachs, aber es wird sich immer wieder jemand finden.

Fred Cordes: Die Unberechenbarkeit des amerikanischen Präsidenten birgt durchaus ein gewisses Gefahrenpotenzial.

Ulrich Wickert: Natürlich. Ein gutes Beispiel ist die Einführung der Stahlstrafzölle. Diejenigen, die vernünftig sind, sind überzeugt, dass Strafzölle der Wirtschaft schaden – nicht nur den amerikanischen Handelspartnern, sondern auch den USA selbst. Die amerikanische Wirtschaft befürwortet keine Strafzölle, denn sie könnten nicht nur importierten Stahl, sondern auch heimische Stahlpreise erhöhen. So ist beispielsweise Coca-Cola dagegen, weil das Unternehmen befürchtet, dass das Aluminium für die Dosen teurer wird und zwar, weil die Produktion im Inland mehr kosten wird. Ich weiß darum nicht, wem der Präsident damit einen Gefallen tun will.

Fred Cordes: Auch für Caterpillar blieben Stahlstrafzölle nicht ohne Folge. Trauen Sie eigentlich einem Mann wie Donald Trump auch einen nuklearen Konflikt wie mit Nordkorea zu?

Ulrich Wickert: Krieg kann er nicht auslösen, denn da muss dann doch der Kongress zustimmen.

Deutsches Baublatt: Haben Sie keine Angst, dass sich Donald Trump nicht einmal doch so provoziert fühlt, dass es eben doch irgendwann mal kracht?

Wie die Vorbereitung auf Interviews mit Helmut Kohl oder Gerhard Schröder ablief und warum ihn das Leben von Hans Müller aus Düsseldorf so faszinierte, erfuhr Fred Cordes von Ulrich Wickert.

Ulrich Wickert: Das glaube ich nicht, weil es zu viele Schranken dazwischen gibt. Den verrückten Präsidenten, der auf den Knopf drückt, kann es nicht geben.

Fred Cordes: Russlands-Präsident Wladimir Putin hatte stark für seine Wiederwahl geworben. In der Rede zur Lage der Nation brüstete er sich mit der Aufrüstung neuer Waffensysteme. Kommt es wieder zu einer Phase des Kalten Krieges?

Ulrich Wickert: Fachleute, welche die Ankündigung analysierten, meinten, es sei nichts Neues dabei. Zum großen Teil funktionieren die Systeme ohnehin nicht. Aber in seiner Rede, die vom Ausland stark beachtet wurde, wandte er sich an die Bevölkerung. Sie sollte überzeugt werden, dass Russland eine Weltmacht darstellt.

Deutsches Baublatt: Als Korrespondent in den USA Ende der 70er-Jahre und in den 80er-Jahren haben Sie auch über die amerikanischen Wahlkämpfe berichtet. Was haben Medien aus Ihrer Sicht und Ihren Erfahrungen nach im amerikanischen Wahlkampf falsch gemacht, dass jemand wie Donald Trump zum Präsidenten gewählt werden konnte?

Ulrich Wickert: Das kann man nicht auf die Medien zurückführen. Zwar spielt spätestens seit diesem Wahlkampf Facebook eine sehr große Rolle. Man hat gesehen, wie gut sich Trump der sozialen Medien bedient. Aber es hat auch Einwirkungen von außen gegeben.

Fred Cordes: Spielen Sie hier auf die Einmischung Russlands im US-Wahlkampf an?

Ulrich Wickert: Nicht nur, sondern es gab auch ein kleines Dorf in Mazedonien. Von dort aus wurden über das Internet rechtsradikale Äußerungen verbreitet, mit denen viel Geld verdient wurde. Je abstruser die transportierten Thesen, desto mehr Klicks gab es und desto mehr Werbung wurde geschaltet – eine ganz abenteuerliche Sache. Bei der Wahl hat aber in erster Linie Frau Clinton viel falsch gemacht. Das hat sogar ihr Mann klar gesagt, sie müsse mehr auf die Wirtschaft eingehen und sie müsse mehr Wahlkampf in entscheidenden Bundestaaten wie Florida machen. Das hat sie nicht getan. In den landesweiten Umfragen lag sie vorne, aber in den letzten Wochen gab es keine Umfragen in einzelnen Staaten mehr. Da, wo man hinten liegt, muss man in den letzten Wochen vor der Wahl Gas geben und sich eben dort noch engagieren. Da hat sie nicht aufgepasst.

Deutsches Baublatt: Im letzten amerikanischen Wahlkampf wurden fake news auf Facebook hunderttausendfach geteilt. Warum sind solche Meldungen so populär?

Ulrich Wickert: 62 Millionen Wähler stimmten für Trump. Wenn man davon nur ein Drittel nimmt, die von solchen Hass-Kommentaren angeheizt werden, haben sie eine riesige Community, die sich gegenseitig hochschaukelt.

Fred Cordes: Einige Staaten wollen fake news bekämpfen. Ist ein Verbot oder eine schärfere Zensur wirkungsvoll oder gefährdet man damit nicht die Meinungsfreiheit?

Ulrich Wickert: Pressefreiheit heißt nicht: Sie dürfen alles – es gibt Grenzen. Alleine durch den Pressekodex sind Journalisten angehalten, sich an ethische Grundregeln zu halten. Facebook beruft sich darauf, ein Transportmittel zu sein. Ein deutscher Verlag kann sich doch nicht auf ein Medium als ein Transportmittel reduzieren, sondern er unterliegt klaren Verboten. Kinderpornografie oder Enthauptungen durch den IS verbreiteten sich online rasend schnell – solchen Verbrechen darf kein Verlag eine Plattform bieten.

Deutsches Baublatt: Wenn Medien wie Facebook mehr geglaubt wird als der klassischen Berichterstattung, stecken dann die klassischen Medien nicht in einer Glaubwürdigkeitskrise?

Ulrich Wickert: Die seriöse Presse in Deutschland steht nicht in der Diskussion. Umfrageinstitute, wie das Institut für Demoskopie Allensbach, belegen, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk und das öffentlich-rechtliche Fernsehen mit 80 Prozent Zustimmung vorne liegen. Im Internet gibt es nicht nur Gerüchte, sondern es werden auch ganz bewusst Falschmeldungen verbreitet. Da gibt es sogar von Russen finanzierte Programme, die absichtlich so was streuen. Wie soll der normale Nutzer unterscheiden können, was stimmt und was nicht.

Deutsches Baublatt: Das fällt ja schon Journalisten schwer.

„Falschmeldungen gab es schon immer“

Ulrich Wickert: Das hat man schön sehen können bei der Bild-Zeitung. Sie fiel auf gefälschte E-Mails des Satiremagazins Titanic rein und behauptete, Juso-Chef Kevin Kühnert solle in Kontakt mit Russland stehen, weil man ihm gefälschte Facebook-Accounts zur Stimmungsmache gegen die GroKo angeboten habe. Falschmeldungen gab es schon immer. Gerade Boulevardmedien machen reißerische Schlagzeilen, indem sie suggerieren, dass es in den Königshäusern kriselt oder eine prominente Schauspielerin schwanger sein könnte. Das verkauft sich.

„Journalismus ist ein Handwerk und wahnsinnig viel Arbeit. Manchmal fühlte ich mich auch als Anthropologe, weil man als Journalist ganz viel lesen muss“, so Ulrich Wickert über seine Berufsjahre.

Fred Cordes: Sind Sie selbst auch schon mal einer Falschmeldung aufgesessen?

Ulrich Wickert: Ich erinnere mich noch genau: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion geisterten Meldungen durch die Medien mit der Frage: Was passiert mit dem nuklearen Material? Es hieß immer, es gäbe nukleares Material, das an Terroristen verkauft werden könnte. Es gab eine Dokumentation der BBC über Plutonium. Daraus wurde ein Bericht für die Tagesthemen gemacht, der gesendet wurde. Hinterher stellte sich heraus, dass alles Quatsch war. Sie denken halt: Wenn die BBC dahintersteht, wird es schon stimmen. Das war leider falsch. Vor demZweiten Golfkrieg wurde von den Amerikanern behauptet, es gäbe im Irak Massenvernichtungswaffen. US-Außenminister Colin Powell hielt seine unrühmliche Rede vor dem UN-Sicherheitsrat und präsentierte dort ein Röhrchen mit weißem Pulver, das angeblich Antrax-Erreger enthielt. Es war abenteuerlich, dass er dort gelogen hat. Aber wie wollen Sie so was als Journalist überprüfen? Es ist ganz schwierig, aber zeigt nur eines: Journalisten müssen wirklich alles, was Politiker mit ernster Miene behaupten, in Frage stellen.

Fred Cordes: Wenn man sich umschaut in Europa, gibt es nationalistische Tendenzen beziehungsweise geht ein Rechtsruck durch Europa. Was müssten wir dem entgegensetzen, um unsere westlichen Werte stärker zu verteidigen?

Ulrich Wickert: Wir müssten wieder stärker diskutieren. Werte müssen über die Erziehung den Kindern vermittelt werden. Ich glaube, da mangelt es bei uns. Erziehung heißt nicht nur, dass man etwas nicht darf, sondern bei uns wird viel über Heimat diskutiert. Doch Heimat findet in der Erziehung immer weniger statt. Sie können in manchen Bundesländern das Fach Geschichte abwählen. Das halte ich für eine Katastrophe. Gerade die Geschichte vermittelt Identität. Wenn man Geschichte nicht mehr unterrichtet, ist das für mich ein Problem, bei dem die Bildung der Identität geschwächt wird. Es ist kein Wunder, dass Leute nicht wissen, wer sie sind.

Fred Cordes: Deutschland tut sich aufgrund der Vergangenheit mit seiner Identität ohnehin schwer.

Ulrich Wickert: Es gibt Leute, die eine nationale Identität ablehnen und sich ausschließlich als Europäer sehen. Nichtsdestotrotz sind wir Deutsche. Wenn man sich mit dem Dritten Reich beschäftigt, gehört die Judenvernichtung dazu. Das verpflichtet uns auch. Man muss daraus die Konsequenzen ziehen, indem wir uns immer bewusst für den humanen Staat einsetzen. Unsere Flüchtlingspolitik hat auch genau damit zu tun. Da sind viele Fehler gemacht worden. Wir wollten human sein, aber haben nicht darüber nachgedacht, was macht das mit den Leuten, die in einem Ort schon lange wohnen, wenn plötzliche viele Flüchtlinge da sind, oder Kinder nicht mehr in den belegten Turnhallen Sport machen können. Das muss mitbedacht werden. Identität ist unglaublich wichtig.

Fred Cordes: Um einen Bogen zu Europa zu spannen: Sind wir uns in Europa überhaupt einig, was wir für ein Europa wollen?

„Viele Leute wissen nicht, was Europa ist“

Ulrich Wickert: Bei der Wahl in Italien hat man gesehen, dass euroskeptische Parteien großen Zulauf bekamen. Viele Leute wissen nicht, was Europa ist. Emmanuel Macron, meiner Meinung nach der interessanteste Politiker derzeit in Europa, appelliert dafür, eine europäische Identität zu schaffen. Er will klarmachen, Europa schützt seine Bürger. Dazu muss eine Reihe an Programmen durchgeführt werden. Wir haben zum Beispiel das Förderprogramm Erasmus, um Auslandsaufenthalte für Studierende zu fördern. Warum gibt es das nicht für den zweiten Bildungsweg? Eine neue EU-Richtlinie soll in Zukunft die Bezahlung und Entsendung von Arbeitnehmern zwischen den verschiedenen EU-Mitgliedstaaten regeln, um europaweit die gleichen Lohnbedingungen wie für einheimische Arbeitnehmer zu schaffen.

Deutsches Baublatt: Das hat große Auswirkungen für die Baubranche.

Ulrich Wickert: Es ist richtig, dass Gehaltsschwankungen zwischen Polen, Bulgaren und Rumänen auf der Baustelle abgeschafft werden. Viele Leute haben Angst vor dem, was Globalisierung bedeutet. Man hat das auch in der Präsidentschaftswahl 2017 in Frankreich gesehen. Im ersten Wahlgang gingen 60 Prozent der Wählerstimmen an Parteien, die Europa kritisch waren. Wir haben unglaublich viel zu tun in Europa. Zum Beispiel müssen wir endlich dafür sorgen, dass Firmen wie Apple in Europa auch Steuern zahlen.

Fred Cordes: Sie sind überzeugter Europäer.

Ulrich Wickert: Ja, es ist wichtig, dass sich in Europa was tut. Deswegen halte ich Macron für einen Segen für Europa. Er hat gesagt, in jedem Land in Europa müssen wir die Diskussion über Europa führen und was Europa ausmacht.

Deutsches Baublatt: Deutschland hat sich fast ein halbes Jahr mit seiner Regierungsbildung beschäftigt statt mit Europa.

Ulrich Wickert: Zum Glück ohne FDP. Sie wäre gegen die Pläne von Macron gewesen. Die Partei hat Tendenzen, die antieuropäisch sind.

Deutsches Baublatt: Was Europa betrifft, sind Sie quasi auch zweigespalten: Sie pendeln immer wieder zwischen Frankreich und Hamburg hin und her. Eines Ihrer Bücher heißt, „Frankreich muss man lieben, um es zu verstehen.“ Was lieben Sie daran, dass es Sie dort immer wieder hinzieht?

Ulrich Wickert: Ich bin dort zur Schule gegangen. Habe zehn Jahre in Paris als Korrespondent gelebt. Von 1969 bis 2017 habe ich über alle Präsidentschaftswahlen berichtet. Ich würde sagen, dass ich die Franzosen einigermaßen verstehe. Was ich am schönsten finde, ist der Humor der Franzosen. Nur verstehen ihn die Deutschen kaum. Was ich sonst noch an den Franzosen schätze: la discrétion – also die Diskretion. Eben dem anderen nicht zu nahe zu rücken.

Fred Cordes: Sie sind auch Offizier der französischen Ehrenlegion. Welche Rechte genießt man da?

Ulrich Wickert: Ein französischer Freund hat mir gesagt: Im Gefängnis hat man ein Anrecht auf eine Einzelzelle und darf sich das Essen aus dem nahegelegenen Restaurant kommen lassen, das man selbst bezahlen muss.

Deutsches Baublatt: Da würden Sie sich, wenn Sie schon mal Ehrenmitglied der französischen Käse-Gilde sind und weil Sie Käse sehr mögen, sicher Käse bestellen?

Ulrich Wickert: Käse ist Teil eines Menüs – mehr nicht.

Fred Cordes: Als Journalist haben Sie Bundeskanzler wie Helmut Schmidt, Helmut Kohl und Gerhard Schröder oder den Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker interviewt. In einem ZDF-Interview erklärten Sie über Ihre Interviewpartner: Am interessantesten waren Gespräche mit Menschen wie mit dem Bruder des letzten chinesischen Kaisers. Was fasziniert Sie an solchen Personen?

Über den US-Wahlkampf und Donald Trump, die Position Europas und seine Identität sowie die Verantwortung der Medien drehte sich das Gespräch zwischen Ulrich Wickert (links), dem ehemaligen Tagesthemen-Moderator, und Fred Cordes(rechts), Vorsitzender der Geschäftsführung der Zeppelin Baumaschinen GmbH.

Ulrich Wickert: Sie haben besondere Biografien, die auch mit der Geschichte zu tun haben. Kein Mensch kennt zum Beispiel Hans Müller aus Düsseldorf. Ich bin ihm 1979 in Peking begegnet und habe erfahren, dass er Mitglied des Volkskongresses ist. Wie kann das sein? Eigentlich könnte man über sein abenteuerliches Leben einen Roman schreiben. Ich habe dann einen Film über ihn gedreht und ein Portrait in der Zeit über ihn geschrieben. Hans Müller machte 1933 Abi und studierte Medizin in der Schweiz – sein Vater war Jude. Als er 1939 mit dem Studium fertig war, wollte er den Faschismus bekämpfen. Ein chinesischer Kommilitone erzählt ihm, Mao Tse Tung bekämpft die Japaner. Müller kauft sich ein Chirurgen-Besteck, fährt nach Hongkong, schlägt sich durch zu den Truppen und wird Feldchirurg von Mao Tse Tung in China. Immer wieder zieht es ihn nach Deutschland, doch die Chinesen überreden ihn, zu bleiben. Er bringt Deng Xiaoping das Bridgespielen bei. Später wird er sogar in den Volkskongress als Delegierter aufgenommen. Als ich ihn kennenlernte, lebte er sehr privilegiert in einer großen Villa und mit Personal. Er ist Präsident der medizinischen Akademie. Das ist einfach unglaublich, um wahr zu sein. So eine Lebensgeschichte kennenzulernen, finde ich unglaublich spannend. Ich habe ihm gesagt: Eigentlich hat Hitler ihr Leben bestimmt. Seine Antwort: Ich habe das einzige gemacht, was ich machen konnte. Müller wollte den Faschismus bekämpfen und macht es auf diese Art und Weise, weil ihm nichts anderes einfiel.

Deutsches Baublatt: Sicher war es nicht ganz einfach, in China Interviews zu führen.

Ulrich Wickert: In den 70er-Jahren, lange bevor ich nach Peking fuhr, hatte ich ein faszinierendes Buch vom letzten Kaiser von China gelesen. Er ist mit neun Jahren Kaiser geworden und war eigentlich Gefangener am Hof. Mitte 20 ist er geflohen. Sein Bruder hat ganz viel Gold heimlich aus dem Palast geschafft, um die Flucht vorzubereiten. Der Kaiser wurde von den Japanern als Kaiser der Mandschurei eingesetzt. Später wurde er Gärtner unter den Kommunisten. Ich bekam in Peking 1979 nur deshalb eine Drehgenehmigung, weil mein Vater Botschafter war. Sonst wäre es wohl nicht gegangen. Als ich einen Antrag zur Drehgenehmigung stellte, erfuhr ich, dass der Bruder des letzten Kaisers noch lebt – ein Glücksfall. Der Bruder zeigte mir dann in der Verbotenen Stadt die kaiserlichen Gemächer, wo sie früher Verstecken gespielt haben. Als wir gedreht haben, wurde uns ein chinesischer Aufpasser dazugestellt.

Deutsches Baublatt: Wurden Sie eigentlich schon mal abgehört?

Ulrich Wickert: Das bekommt man ja nicht mit. Aber vermutlich, ja.

Deutsches Baublatt: Woher nehmen Sie Ihre Ideen für Reportagen oder Ihre Bücher sowie Krimis her?

Ulrich Wickert: Mich treibt Neugier an – die Grundvoraussetzung für Journalismus.

Fred Cordes: Was würden Sie jungen Journalisten mit auf den Weg geben?

Ulrich Wickert: Arbeiten, arbeiten, arbeiten. Journalismus ist ein Handwerk.

Fred Cordes: Was sollten Journalisten nicht tun?

„Manchmal fühlte ich mich auch als Anthropologe, weil man als Journalist ganz viel lesen muss“

Ulrich Wickert: Sie sollte nie etwas herausposaunen, bevor sie nicht bestens informiert sind. Journalismus ist wahnsinnig viel Arbeit. Manchmal fühlte ich mich auch als Anthropologe, weil man als Journalist ganz viel lesen muss. In Frankreich gibt es eine Klassen-Gesellschaft. Dort ist die Bourgeoisie die herrschende Klasse – in Deutschland ist Bourgeoisie ein Schimpfwort. Als Korrespondent in Frankreich wollte ich ein Portrait über die Bourgeoisie machen. Ich habe als Vorbereitung erst drei Bücher allein über die Geschichte der Bourgeoisie gelesen. Soviel Wissen können Sie kaum in einem Film unterbringen, aber es macht klar, wie Sie an das Thema rangehen müssen. Ich habe Interviews für Phoenix zur Gründung des Senders gemacht. Als ich für die Reihe ein rund dreistündiges Gespräch mit Helmut Kohl führte, habe ich mich zwei Wochen nur darauf vorbereitet. Zuvor gab es noch ein zweistündiges Vorgespräch mit ihm. Ich habe fast alle Interviews und Bücher über ihn gelesen, weil ich für das Gespräch bestmöglich gewappnet sein wollte.

Deutsches Baublatt: Helmut Kohl hatte ein sehr angespanntes Verhältnis zu Journalisten.

Ulrich Wickert: Nicht mit mir. Auch mit Gerhard Schröder habe ich dann für Phoenix ein Gespräch geführt. Er wollte die Länge auf eine Halbzeit von 45 Minuten beschränken. Letztlich sind dann daraus doch eine Stunde und 40 Minuten geworden. Schröders Reaktion: Das hat man gar nicht gemerkt. Das liegt an der Vorbereitung, weil sich der Gesprächspartner nicht langweilt und sich aus einer Antwort schon die nächste Frage entwickelt.

Fred Cordes: Gab es bei den Tagesthemen auch schon mal ein Interview, bei dem Ihr Interviewpartner das Gespräch abrupt beendet hat?

Ulrich Wickert: Nein, das nicht, aber das Gegenteil: Regine Hildebrand, die ehemalige Sozialministerin Brandenburgs, ließ mich nicht zu Wort kommen. Auf eine Frage von mir antwortete sie sechs Minuten lang.

Deutsches Baublatt: Auch legendäre Versprecher blieben bei den Tagesthemen nicht aus: Gab es da etwas, was Ihnen besonders peinlich war, während Sie live auf Sendung waren?

Ulrich Wickert: Oh, als ich von einer rot-gelb-grünen Koalition spreche und alle Farben immer wieder durcheinanderbringe. Zum Schluss sage ich dann: Jetzt fangen wir dann nochmal von vorne an.

Deutsches Baublatt: Ich habe über Sie gelesen: Ein Einstieg in die Politik könnte Sie reizen.

Ulrich Wickert: Oh nein. Ich könnte mich nie in eine Partei begeben, die eine Zwangsjacke für mich bedeuten würde.

Deutsches Baublatt: Weil Journalisten kritische Distanz wahren sollten?

Ulrich Wickert: Jeder Journalist ist auch Bürger und sollte eine politische Meinung haben. Er soll sich in der Arbeit nicht gemein machen mit gewissen Themen, wobei das nicht ganz ausbleibt. In der Auswahl von Themen bestimmen Sie ja schon, in welche Richtung es geht. Es gibt Darstellungsformen, wie einen Kommentar, da ist eine eindeutige Haltung unabdingbar.

Fred Cordes: Wie muss man sich denn den Tagesablauf als Moderator der Tagesthemen vorstellen?

Ulrich Wickert: Am Morgen habe ich das Radio angeschaltet und beim Frühstück einen Stapel Zeitungen gelesen. Dann bin ich gegen halb elf Uhr ins Büro und es gab erste Konferenzen. In der Mittagspause habe ich mich zum Essen verabredet.

Deutsches Baublatt: Mit einem Informanten?

Ulrich Wickert: Nein, eher mit Freunden, um aus dem Tagesgeschäft rauszukommen. Um drei Uhr nachmittags kam ich wieder ins Büro. Dann läuft es automatisch ab. Es gibt Konferenzen. Man bereitet sich auf die Sendung vor. Es wird telefoniert. Man schreibt die Moderation und geht schließlich auf Sendung. Ist diese aus, gibt es noch eine Konferenz. Sie sind dann wieder um halb zwölf Uhr zu Hause.

Fred Cordes: Wer bestimmt, was gesendet wird?

Ulrich Wickert: Die Redaktion. Sie haben einen Einfluss, der aus der journalistischen Position kommt, aber man kann es gar nicht alleine bestimmen. In der Planungskonferenz legt man fest, was gesendet werden soll. Da wird kontrovers diskutiert, was auch gut so ist. Eines Tages zitierte einer das berühmte Gedicht von Rilke zum Herbsttag. Herr: es ist Zeit. Da entstand die Idee, damit die Sendung zu beenden. Klaus Maria Brandauer ließen wir das Gedicht vortragen. Das hat mit Aktualität nur sekundär damit zu tun, dass Herbstanfang war. Am nächsten Tag gab es eine große Diskussion darüber, ob man in den ARD-Tagesthemen ein Gedicht rezitieren darf. Die Zuschauer waren begeistert – es gab Menschen, die sich sofort einen Rilke-Gedichtband kauften. Man bräuchte mehr solcher Überraschungen. Eigentlich stehen solche Sendungen wie die Tagesthemen dafür, dass sie das Überraschende bringen, das mit der Aktualität zu tun hat, aber an das man nicht gleich denken würde.

Fred Cordes: Für einen ungeheuren Überraschungseffekt sorgten Sie mit Ihrem Spaziergang über die Place de la Concorde, als Sie in Paris Korrespondent waren. Das ging quasi in die Fernsehgeschichte ein.

Ulrich Wickert: Das ist das Furchtbare. Ich dachte, ich habe Wichtigeres gemacht. Über die Place de la Concorde bin häufig rübergegangen, weil es der Weg von Zuhause ins Büro war. Jemand geht über eine Straße, war für mich viel zu banal. Ein Kollege aus Köln, der mich besuchte, hat mich überredet, das zu drehen und damit eine Sendung zu eröffnen.

Fred Cordes: Ist das Ablesen der Nachrichten von einem Teleprompter inzwischen Usus?

Ulrich Wickert: Das ist Standard, sogar bei der Tagesschau. Dort hat man sich lange geweigert. Man bestand darauf, dass Nachrichten von einem Blatt Papier abgelesen werden. Die Zuschauer sollten nicht denken, dass die Tagesschausprecher die Nachrichten auswendig kennen.

Fred Cordes: Ist es manchmal auch lästig, wenn Sie auf der Straße erkannt und als Mister Tagesthemen angesprochen werden, wo Sie doch immer so gerne den Gedanken nachhängen?

Ulrich Wickert: Man gewöhnt sich mit der Zeit daran – letztlich ist es nett gemeint. Mir passiert es heute noch am Bahnhof oder Flughafen, dass ich angesprochen werde mit den Worten: „Ich wünsche Ihnen eine geruhsame Nacht.“

Deutsches Baublatt: Wenn Journalismus harte Arbeit ist, was ist dann Schreiben für Sie? Eine Art Kraftakt, der viel Anstrengung kostet oder können Sie da entspannen, wenn Sie sich die Krimis rund um den Pariser Untersuchungsrichter Jacques Ricou ausdenken?

Ulrich Wickert: Schreiben ist Hobby. Ich genieße es – ganz nach dem Motto: Nie die Lust aus den Augen verlieren. Ich schreibe nur Bücher, auf die ich Lust habe.

Fred Cordes: Vielleicht widmet sich eines Ihrer nächsten Bücher der Heimat, meinten Sie anlässlich ihres 75-jährigen Geburtstags. Was bedeutet Heimat für Sie, wo Sie doch so viele Jahre im Ausland verbrachten?

Ulrich Wickert: Ich würde kein reines Buch über Heimat machen, sondern über das, was Menschen als Sehnsucht von Heimat bezeichnen und was stark verbunden ist mit Identität. Man kann beides nicht trennen. Heimat ist für mich emotional. Das sind Gerüche. Wenn ich in Paris über den Metroschacht gehe, und ich rieche den für viele Fremde schrecklichen Geruch, weiß ich, ich bin zu Hause. Oder ich rieche frischgebackene Croissants oder Käse. Heimat ist da, wo Freunde sind. New York ist auch ein Stück Heimat für mich. Da fühle ich mich zu Hause.

März/April 2018