Nachhaltige Transformation

Die Lage könnte ernst werden, wenn ein Gasembargo Produktionseinschränkungen oder gar Produktionsstopps auslöst. Ob Putin den Gashahn tatsächlich zudreht und das Gas abgestellt wird, lässt sich aktuell kaum vorhersagen. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hat Ende Juni die Alarmstufe des Notfallplans Gas ausgerufen. Sollte die Gasmangellage eintreten, könnte das nicht nur für kalte Wohnungen sorgen, sondern auch zu Betriebsschließungen führen. Die Folge wären große soziale und ökonomische Konsequenzen, wenn Arbeitsplätze und Wohlstand in Deutschland auf dem Spiel stehen. Zumal die Energiepreise Rekordwerte erreichen, ist es umso wichtiger, sich auf die Energiekrise vorzubereiten und Energie zu sparen. Fakt ist: Deutschland hat 2021 rund 912 Terawattstunden Erdgas verbraucht, von denen rund 90 Prozent aus Importen stammten. Russland deckte knapp die Hälfte davon ab.

Die Energiekrise, ausgelöst durch den Krieg in der Ukraine, hat Bauunternehmen auch ohne Gas-Lieferstopp schon länger über die hohen Preise für Baustahl und Bitumen erreicht und zu einer Belastung der Betriebe geführt. „Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine haben sich die Lieferprobleme bei Baustoffen drastisch verschärft. Die Materialpreise legen infolge der Knappheit und höheren Energiekosten weiter zu. Aufgrund der steigenden Baukosten und der höheren Zinsen kommt es nun besonders im Wohnungsbau vermehrt zu Auftragsstornierungen“, beschreibt ifo-Forscher Felix Leiss die Lage. Weil sich diese zuspitzt, appelliert auch der Zentralverband Deutsches Baugewerbe an die öffentliche Hand, mit intelligenten Investitionsimpulsen gegenzusteuern und nicht Aufträge zurückzuhalten, bis die Preise wieder sinken. „Die immens steigenden Baustoffkosten, die seriöse Kalkulationen für die Unternehmen immer schwieriger machen, zeigen uns, dass wir schnellstens eine nationale Rohstoff- und Energiestrategie für verschiedene Baustoffe und Materialien brauchen. Wir dürfen nicht länger von Importen abhängig sein. Deutschland muss alles dafür tun, um resilienter gegen Krisen zu werden. Ein nationaler Bau- und Rohstoffgipfel wäre dafür ein wichtiger erster Schritt“, ist Felix Pakleppa, Hauptgeschäftsführer des Zentralverbandes Deutsches Baugewerbe, überzeugt.

Energiekrise und die Folgen für die Baustoffindustrie.

Im Fall eines Gasstopps könnte beispielsweise die Ziegelindustrie nicht einfach die Brennöfen abstellen. Das stellte Jürgen Habenbacher, Geschäftsführer der Wienerberger GmbH, der deutschen Tochter des Wienerberger Konzerns, in einem Interview in der Wochenzeitung „Die Zeit“ dar: „Wir brauchen eine Vorlaufzeit von bis zu zehn Tagen. So machen wir es etwa auch bei Instandhaltungsmaßnahmen, aber diese werden sehr gründlich geplant. Man darf nicht vergessen, dass wir Öfen mit mehr als 1 200 Grad Brenntemperatur haben. Diese müssen auf eine besondere Weise abkühlen, damit die Anlage nicht schwer beschädigt wird. Wir hätten sehr hohe Investitionskosten, um diese Öfen wieder instand zu setzen oder neu zu bauen. Da geht es um zweistellige Millionenbeträge bei einem Ziegelwerk.“ Käme es zu einem Produktionsstopp, würde das dann letztlich Stillstand bedeuten. Denn die Ziegelproduktion ist derzeit auf Gas und Strom angewiesen. Nicht nur Jobs der 800 000 Beschäftigten im Baugewerbe hängen am Gas, die in Gefahr wären, sondern auch von anderen Branchen.

Daher fordern IG Metall, IG BCE und IG BAU neben einem mittel- und langfristigen Umsteuern in der Energiepolitik auch kurzfristige Maßnahmen. Michael Vassiliadis, Vorsitzender der IG BCE, mahnte, dass die Verwerfungen auf den Energiemärkten infolge des Ukraine-Krieges nicht allein auf der Ebene der Endverbraucher bekämpft werden könnten. „Es gilt, die Produktion wichtiger Güter etwa des täglichen Lebens, der Energiewende oder des dringend nötigen Wohnungsbaus aufrechtzuerhalten. Explodierende Energiepreise, vor allem aber ein mögliches Gasembargo würden die energieintensive Industrie – die Mutter des industriellen Netzwerkes – hart treffen“, sagte er. „Die Folgen wären nicht nur Kurzarbeit und Jobverluste, sondern auch der schnelle Zusammenbruch der industriellen Produktionsketten in Europa – mit weltweiten Folgen. Es muss unser aller Ziel sein, das abzuwenden.“ Nun gelte es, „sehr aufmerksam auf Sicht zu fahren und alles an Energiekapazitäten zu nutzen, was wir noch haben.“ Denn insbesondere sind die energieintensive Kalk- und Zementindustrie als Basis für die Bauwirtschaft unverzichtbar. Falls nötig, müssten Sofortmaßnahmen wie Kurzarbeit in den Betrieben möglich sein, wenn diese aufgrund zu hoher Energiekosten ihre Produktion drosseln müssten. Um Insolvenzen zu verhindern, bräuchte es auch Liquiditätshilfen für besonders betroffene Betriebe. Mittel- und langfristig fordern die Industriegewerkschaften unter anderem, den Ausbau erneuerbarer Energien sowie der Wasserstoffkapazitäten zu beschleunigen – einschließlich der entsprechenden Planungs- und Genehmigungsverfahren.

Sollten die russischen Gasimporte tatsächlich ausbleiben, müsste Deutschland trotz einer europäischen Ersatzstrategie rund 290 Terawattstunden Erdgas einsparen, hat der Thinktank Agora Energiewende ermittelt. Durch Energiesparmaßnahmen und alternative Energiequellen ließe sich der Verbrauch von Erdgas vorübergehend um rund 160 bis 260 Terawattstunden senken. Entsprechende Maßnahmen wären etwa Erdgas in der Strom-, Wärme- und Industrieproduktion durch alternative Brennstoffe zu ersetzen oder die Raumtemperatur um 0,5 bis 1,5 Grad abzusenken. Eine ambitionierte Wärmewende und der massive Ausbau der erneuerbaren Energien würden es ermöglichen, bis 2027 den Gasbedarf insgesamt um rund ein Fünftel zu reduzieren. „Die Regierung muss nun zusammen mit der Bevölkerung und der Industrie alle Kräfte bündeln, um der fossilen Energiekrise vor allem strukturell zu begegnen“, so Simon Müller, Direktor von Agora Energiewende. Der Großteil des Erdgases wird in Gebäuden verbraucht. Um hier die Abhängigkeit schnell zu reduzieren, sind eine geringfügige Steigerung der Sanierungsrate von 1,2 Prozent im Jahr 2021 auf 1,6 Prozent im Jahr 2027 sowie gut drei Millionen neu installierte Wärmepumpen nötig. Die hohen Gaspreise rücken Effizienzmaßnahmen und Elektrifizierung für die Industrie in den Fokus, insbesondere der Umstieg auf Wärmepumpen oder Elektrodenkessel für die Niedertemperatur-Prozesswärme. Auch der schnellere Hochlauf von grünem Wasserstoff ist zentral, um die Abhängigkeit der Industrie von Erdgas nachhaltig zu senken.

Die Energie- und Versorgungssicherheit macht auch dem Stahlwerk Feralpi Sorgen, das jährlich rund eine Million Tonnen Baustahl in Riesa an der Elbe produziert. Und es soll noch mehr werden: In den kommenden Jahren sollen über 160 Millionen Euro investiert werden, um das Stahlwerk noch effizienter und umweltfreundlicher zu machen. Ziel bleibt der grüne Stahl, so Werksdirektor Uwe Reinecke. Zugleich soll die Produktion erhöht werden, weswegen ein zusätzliches Walzwerk gebaut wird. „Statt rund einer Million Tonnen soll unser Output auf 1,25 Millionen Tonnen Stahlerzeugnisse im Jahr steigen“, so Reinecke. Die Energiekrise zwingt nun zu Synergien. „Wir haben mit Unternehmen aus der Nachbarschaft – unter anderem Wacker Chemie, dem Schmiedewerk Gröditz, Mannesmann Zeithain und Ervin in Glaubitz – eine Gemeinschaft gebildet, die Energie- und Wasserstoffallianz im Industriebogen Meißen. In dieser Region werden pro Jahr rund 1,2 Terawattstunden Strom verbraucht, das sind mehr als acht Prozent des Verbrauchs von ganz Sachsen. Wir wären alle interessante Wasserstoffverbraucher und daher wichtige Partner bei der Energiewende im Freistaat. Würden diese Unternehmen Erdgas mit Wasserstoff ersetzen, könnten rund 220 000 Tonnen CO2 eingespart werden“, so Reinecke. Doch noch ist es nicht so weit: Das Stahlwerk will demnächst den Einsatz von Wasserstoff im Werk testen. Die Schaffung einer echten Anschlussstelle von der zentralen H2-Pipeline des Industriebogens an die vom Land geplante Wasserstofftrasse wäre bis zum Jahr 2027 möglich – doch sinnvoll sei sie nur, wenn der Wasserstoff günstiger sei als Strom und Gas, betont Reinecke. „Und er sollte mit regenerativen Energien hergestellt sein, sonst können wir auch keinen „grünen Stahl“ produzieren.“

Auch andere Hersteller energieintensiver Baustoffe müssen sich derzeit im Hinblick auf den Klimawandel und vor dem Hintergrund der Energiekrise transformieren, wollen sie wettbewerbsfähig bleiben. Das gilt allen voran für die Zementindustrie. Dr. Nicola Kimm, Mitglied des Vorstands und Chief Sustainability Officer bei HeidelbergCement, präsentierte auf dem diesjährigen Kapitalmarkttag neue mittelfristige Nachhaltigkeits- und Finanzziele: „Mit der Minderung der spezifischen Netto-CO2-Emissionen auf 400 Kilogramm pro Tonne zementartigem Material bis 2030 setzen wir uns das ambitionierteste Ziel der Branche.“ Dieser Zielwert entspricht laut Unternehmensangaben einer Reduktion von 47 Prozent gegenüber dem Basisjahr 1990 und liegt deutlich über dem zuvor für 2030 angestrebten Reduktionsziel von 33 Prozent im selben Zeitraum. Gegenüber 2021 will der Baustoffkonzern die CO2-Emissionen um weitere 30 Prozent senken. Auf Produktebene liegt der Schwerpunkt auf der breiten Einführung immer CO2-ärmerer Zemente und Betone, einem schnellen Einsatz recycelter Materialien sowie der Nutzung neuer Technologien wie dem 3D-Betondruck. Bis 2030 will HeidelbergCement den Umsatz mit nachhaltigen Produkten auf einen Anteil von 50 Prozent des Konzernumsatzes steigern.

Ein anderer Vorschlag, der die Runde macht, um auf die steigenden Energie- und Materialpreise zu reagieren, ist stärker regionale Rohstoffe zu nutzen. „Der Transportradius von Baustoffen für den Rohbau war deshalb schon immer begrenzt. Insofern sind heimische Rohstoffe nicht nur aktuell die Lösung, sondern werden es auch in Zukunft bleiben“, ist Matthias Günther überzeugt, der das Pestel Institut leitet, das Kommunen, Ministerien, Banken, Unternehmen und Verbände wie die Deutsche Gesellschaft für Mauerwerks- und Wohnungsbau, mit Analysen unterstützt. So hat auch der Präsident der Bauwirtschaft Baden-Württemberg, Markus Böll, darauf hingewiesen, dass die Nutzung von hei-mischen Ressourcen sowie der Ausbau hiesiger Produktionsstätten und damit die Sicherung von regionalen Lieferketten dringend forciert werden müssen. „Nun haben sich die Probleme um die Beschaffung von Bauvorprodukten um ein Vielfaches verstärkt. Putins Aggressionskrieg mit all seinen schrecklichen und unkalkulierbaren Auswirkungen zeigt, dass wir uns unabhängiger machen müssen vom Weltmarkt. Schließlich gibt es genügend heimische Baustoffe vor Ort. Wir müssen sie nur stärker nutzen“, macht Markus Böll deutlich und vertritt damit eine Position, auf welche die Branche angesichts der Senkung von Emissionen längst pocht, um unnötige Transporte zu vermeiden.

Juli/August 2022