Hinter den Kulissen unter Tage

Grubenfahrt Ibbenbüren oder der bislang härteste Reporter-Einsatz für das Deutsche Baublatt

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Wer zum ersten Mal unter Tage einfährt, taucht ein in eine völlig neue Welt – kein Vergleich zu einem herkömmlichen Baustellenbesuch. Schon im Vorfeld macht die RAG Anthrazit Ibbenbüren Besucher in Form eines Merkblatts auf die besondere Situation des Untertagebetriebs aufmerksam, um Gefahren vorzubeugen. Von vornherein scheidet eine Grubenfahrt aus für den, der an Klaustrophobie, Epilepsie, an erheblichem Bluthochdruck, Asthma oder ausgeprägter Diabetes leidet. Denn in bis zu 1 420 Metern Teufe – so die Bergmannssprache für Tiefe – herrschen andere klimatische Bedingungen als an der Erdoberfläche, die Herz und Kreislauf belasten können – vor allem bei denjenigen, welche diese nicht gewohnt sind.

Zeppelin Untertage

Die Redaktion des Deutschen Baublatt war vor Ort im Flöz 69 und fuhr ein mit Zeppelin Geschäftsführer Thomas Weber, Zeppelin Bereichsleiter Underground Mining Stephan Bäumler, Zeppelin Leiter Projekt- und Einsatztechnik Uwe Wieduwilt, Zeppelin Serviceleiter Peter Burmann und Caterpillar Vertriebsleiter Jürgen Ingendahl. „Wie wird mein Körper reagieren, wenn wir uns mehrere Stunden so weit unten aufhalten?“ – diese Frage stellt sich jedem, der noch nie in seinem Leben zuvor unter Tage war. Eines vorne weg: Es war der bislang härteste Reporter-Einsatz für das Deutsche Baublatt, weil unglaublich anstrengend, insbesondere wegen der hohen Temperaturen. Unweigerlich drängen sich hier so tief unter der Erde Assoziationen des Fegefeuers auf. Die Grubenfahrt über den Nordschacht in Ibbenbüren hinterließ einen nachhaltigen Eindruck und machte bewusst, was Bergarbeiter körperlich in jeder Schicht leisten. Umso mehr Respekt verdient ihre Arbeit. Nicht zu vergessen, diese birgt auch ein Gefahrenpotenzial aufgrund eines unvorhersehbaren Gasausbruchs, den niemand – trotz umfangreicher Vorsichtsmaßnahmen – völlig ausschließen kann. Trotzdem: „Unsere Unfallkennziffer liegt deutlich unter der Kennzahl der Bauindustrie“, macht Jürgen Beimdieck, technischer Produktionsleiter, bewusst. Nirgendwo wird der Arbeitsschutz so hoch gehängt wie in deutschen Zechen.

Spezielle Untertage Kleidung

Die Grubenfahrt beginnt mit dem Ausziehen in der Kaue – der Bergbau hat seine eigene Sprache.

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Kaue ist der Umkleide- und Waschraum. Dort drückt der Kauenwärter jedem Besucher einen Stapel an Klamotten in die Hand, wie ein graues Unterhemd und -hose aus Feinripp – eben funktional statt sexy Dessous. Anziehen müssen alle dicke Baumwollsocken, einen Schal, der später so manchen Schweiß trocknen wird, ein dunkelblau- weiß gestreiftes Hemd und eine weiße Hose und Jacke – diese werden nach dem Einsatz anders aussehen, wenn die Steinkohle ihre Spuren hinterlassen hat. Jeder muss Sicherheitsschuhe und einen Schienbeinschutz tragen – ebenso Schutzhelm, Schutzbrille sowie Schutzhandschuhe. Knieschoner werden verteilt, die erst später angelegt werden, wenn das Abenteuer seinen Höhepunkt erreicht: auf allen vieren durch den Streb kriechen.

Untertage Ausrüstung

Feuerzeuge oder batteriebetriebene Geräte sind verboten, weil Funkenflug im wahrsten Sinne des Wortes brandgefährlich wäre und Methangas in der Luft entzünden könnte. Die digitale Spiegelreflexkamera für die Reportage muss zurückbleiben – die RAG Anthrazit Ibbenbüren hat ihren eigenen Fotografen beordert, der noch analog mit einer Leica knippst. Logischerweise muss jeder sein Smartphone abgeben wie sämtlichen Schmuck – selbst der Ehering muss ab. Sicher ist sicher. Denn allzu leicht könnte man an einem Bauteil hängen bleiben und sich verletzen. Dafür bekommen alle eine Grubenlampe und einen Filterselbstretter – ein Atemschutzgerät, das ständig am Mann mitgeführt und zusammen mit einer Wasserflasche um den Gürtel geschnallt werden muss. Das Gerät wird im Notfall verwendet, um aus einem durch Brandgase kontaminierten Bereich in den Frischwetterstrom fliehen zu können, sollte giftiges Kohlenmonoxid austreten, das dann in ungiftiges Kohlendioxid umgewandelt wird.

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Wie der Filterselbstretter funktioniert und anzulegen ist, zeigte Ralf Siemon, Leiter Maschinentechnik unter Tage, der zusammen mit Frank Etgeton, Abteilungsleiter im Maschinenbetrieb unter Tage, die Gruppe bis zum Gleithobel samt Schildausbau führt und dabei die Abläufe und Prozesse unter Tage erklärt.

Grubenfahrt

Alle müssen durch ein Drehkreuz durch, über das jeder registriert wird, der einfährt oder die Grube wieder verlässt – schließlich soll niemand da unten verlorengehen. Ein Bus befördert die Besucher zum Nordschacht des Kohlebergwerks, der mit 1 420 Metern Teufe als einer der tiefsten Schächte Europas gilt. Dort wartet das nächste Transportmittel: Ein Förderkorb, unterteilt auf vier Etagen, fährt die Reporterin zusammen mit dem Zeppelin Team, mit bis zu acht Meter pro Sekunde nach unten. Während der Korb abwärts rattert, ist es ansonsten eher still – jeder hängt den Gedanken nach. Anspannung liegt in der Luft. Geräusche von der Oberfläche lassen mit jedem Meter in die Tiefe hörbar nach – so wie das Tageslicht schwindet und Dämmerung einsetzt. Auf Sohle fünf heißt es: umsteigen – und zwar in den zweiten Förderkorb, der gegenläufig hauptsächlich zum Materialtransport eingesetzt wird und der in Einzelteilen zerlegt die Hobelanlage samt Schild nach unten brachte. Der Förderkorb führt bis zur sechsten Sohle. Unten – in 1 420 Metern Teufe – angekommen, markiert die Schutzpatronin der Bergleute, die Heilige Barbara, den Einstieg in die Unterwelt.

Untertage Klima

Es herrscht zwar künstliches Licht von Neonröhren, doch jeder wird aufgefordert, seine Stirnlampe am Helm einzuschalten, deren Lichtkegel den Weg in der Dunkelheit beleuchtet. Nur gut, dass es die dicke Arbeitskleidung gibt. Denn es zieht – die Bewetterung sorgt für frische Luft und Abkühlung. Das soll später noch anders werden. Schließlich ist da unten eine Gesteinstemperatur von 40 bis 50 Grad Celsius die Regel – und das, obwohl Wasser und Kühlanlagen dafür sorgen, den Luftstrom zu kühlen. An die Hitze haben sich die Bergarbeiter längst gewöhnt – anders die Besucher. Sie haben schnell da unten jedes Zeitgefühl und jeglichen Orientierungssinn verloren.

Untertage beeindruckende Infrastruktur

Weit über eine Stunde werden sie unterwegs sein, bis zu ihrem Ziel: dem Cat Gleithobel, mit dem das Kohleflöz abgebaut wird. Passiert wird ein Labyrinth endlos langer Gänge, die abzweigen oder andere Wege kreuzen. 65 Kilometer lang ist das ganze Streckennetz, über das die Lagerstätte erschlossen ist. Ohne fachkundige Begleiter wäre hier jeder verloren. Zumal das Bergwerk ständig in Bewegung ist, das heißt, sich unentwegt ändert. Alleine in diesem Jahr werden noch 5,3 Kilometer an Strecke aufgefahren und zwar ausschließlich durch Bohr- und Sprengarbeiten. An den Wänden, die abgestützt werden, laufen Leitungen – sieben verschiedene übereinander, etwa für Wasser, Strom oder aber auch für Zementpulver, das an den jeweiligen Stationen mit Wasser gemischt wird, um den Baustoff aufzubereiten. „Es ist wirklich beeindruckend, welche Infrastruktur hier unterirdisch im Lauf der Jahre geschaffen wurde“, so Thomas Weber.

Lange Wege in großer Tiefe

Für den Zeppelin Geschäftsführer Thomas Weber, verantwortlich für den Service, ist es sein erster Unter-Tage-Einsatz. Zusammen mit Stephan Bäumler, Uwe Wieduwilt, Peter Burmann und Jürgen Ingendahl wird er selbst die neue Cat Gleithobelanlage GH 800 B an die RAG Anthrazit Ibbenbüren übergeben – die tiefste symbolische Schlüsselübergabe, die je stattgefunden hat. Denn nirgendwo sonst auf der Welt, wird die Kohle in dieser Tiefe gefördert. Um dorthin zu gelangen, haben alle eine Strecke von bis zu 2,6 Kilometern Länge vor sich – die erste Etappe wird zu Fuß zurückgelegt. Dann kommt die Bandanlage ins Spiel. Ralf Siemon fährt voraus, hält diese an, indem er den Notaus-Schalter drückt und alle müssen sich der Reihe nach mit dem Bauch auf die Bandanlage legen, den Kopf unten halten, auf die Hände abstützen. Das Band setzt sich in Bewegung. Ein ungewöhnliches Fortbewegungsmittel – eine Bauchmassage ist inklusive. Wer hätte gedacht, dass es hier unten gar Anflüge von Wellness gibt? Denn die Gummibandanlagen laufen auf Tragrollen und werden abgestützt, was der Bauch zu spüren bekommt. Die Fahrt könnte ewig so weiter gehen. Doch nach ein paar Minuten, wird das Band angehalten.

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Alle müssen absteigen und den Weg wieder zu Fuß aufnehmen. Erste Spuren der schwarzen Steinkohle bleiben an der weißen Arbeitskleidung haften. Insgesamt wechseln sich Fußmarsch und die Fahrt auf der Bandanlage zwei Mal ab, bis die Hobelanlage Cat GH 800 B erreicht wird. Dort taucht erstmals eine Kolonne von Kumpels auf. „Glück auf!“ schallt es entgegen – so grüßen die Kumpels. Unten sind hier alle per Du.

Cat Gleithobel GH 800B Untertage

Jede Kolonne hat ihre eigenen Aufgaben zu bewältigen. Fünf Bergarbeiter betreuen den Cat Gleithobel GH 800 B – zwei steuern ihn, drei sind für die Wartung zuständig. Hauptkomponenten sind Schildausbau, Kettenkratzförderer sowie die Gewinnungsmaschine, der Kohlenhobel, der das Flöz schält. All das dürfen die Besucher aus der Nähe in Augenschein nehmen. Diese kommen gerade während der Wartungsschicht an, das heißt, der Hobel-Betrieb ruht. Nur dann ist es erlaubt, auf den Knien und allen vieren in den engen, knapp 95 Zentimeter hohen Streb hineinzukriechen. Einer nach dem anderen wagt sich vor. In der Wand, abgestützt durch den Schildausbau, glitzert die schwarze Anthrazitkohle – 300 Millionen Jahre alt. Irgendwie kommt es einem ganz unwirklich vor, hier zu sitzen, sich mit Reviersteiger Georg Ostendorf über den Abbau, die Hobelanlage und den Schildausbau auszutauschen und sich der ganzen Dimensionen bewusst zu werden. Früher, mehr als 70 Jahre zuvor, musste die Kohle mühsam von Hand und mit Presslufthammer abgebaut werden. Vor der Hacke ist es dunkel – daher rührt der alte Bergmannspruch.

Förderkapazität

2015 schält der Kohlehobel das Flöz ab. 1,6 Millionen Tonnen, 1,2 Millionen Tonnen, 900 000 Tonnen, 700 000 Tonnen – so fährt RAG Anthrazit Ibbenbüren von 2015 bis 2018 die Förderkapazität zurück. So will es die Bundesregierung. So ist es beschlossene Sache. Der Abbau der deutschen Steinkohle neigt sich dem Ende zu. Das bedeutet, es werden sukzessive weniger Mitarbeiter dafür benötigt. In diesem Jahr sind 1 863 im Bergwerk beschäftigt. 2018 ist Schluss. Dann laufen die Subventionen aus, mit denen Deutschland den Kohlebergbau fördert. Sozialverträglich soll alles beendet werden. Kommt hier nicht ein bisschen Wehmut bei den Kumpels auf, wenn sie das alles aufgeben müssen, ein ganzer Berufszweig und damit viel Know-how, das jahrelang aufgebaut wurde, für immer verschwinden? „Auf jeden Fall. Meine Familie ist bereits in der vierten Generation im Bergbau tätig. 2018 werde ich mit 50 Jahren in Vorruhestand gehen“, erklärt Frank Etgeton, der bereits Pläne für die Zeit hat, wenn er nicht mehr einfährt.

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Das schwarze Gold

Nachdem alle aus dem Streb gekrabbelt sind, setzt sich der Hobel in Bewegung und beginnt mit der Förderung. Zeitversetzt landet auf dem Förderband das funkelnde Gestein. Dazwischen Steinplatten mit Abdruck – Versteinerungen von Bäumen, die durch den enormen Druck entstanden sind. Das schwarze Gold fasziniert. Keiner der Besucher kann den Ort verlassen, ohne einen glitzernden Kohle-Brocken als Erinnerung an das Abenteuer unter Tage mitzunehmen.

Rückweg

Der Rückweg nach draußen an die Erdoberfläche hat aber noch aus einem ganz anderen Grund deutliche Spuren hinterlassen. Denn abwechselnd geht es per Fuß und per Bandanlagen wieder zurück. Diesmal transportiert das Gummiband Kohle – die Gruppe muss sich mit dem Bauch darauf legen. Manch spitzer Brocken drückt, sodass sich die weiße Arbeitskleidung in Nullkommanichts endgültig schwarz verfärbt. Inzwischen macht sich gewisse Müdigkeit breit. Bis zum Aufzugsschacht müssen wieder viele Meter zurückgelegt werden. Dann geht es nach oben. Diesmal pressen sich in den Förderkorb die Kumpels dicht an dicht – es ist Schichtende. Mitten unter ihnen die Reporterin und die Gruppe von Zeppelin. An ihnen haftet Schweiß und Kohlestaub, die in der Kaue abgewaschen werden. Frischgeduscht und wieder sauber, kommen glühende Gesichter zum Vorschein – vor Begeisterung über die Welt unter Tage.

November/Dezember 2015