Fahrrad-Offensive rollt

Sars-CoV-2 beschleunigt das, was Greta Thunberg propagierte: einen geringeren CO₂-Ausstoß. Als zu Hause bleiben im Zuge des verhängten Lockdowns angesagt war, viele Beschäftigte ihre Arbeit ins Homeoffice verlagerten, Geschäftsreisen ausfielen und Meetings in den virtuellen Raum verschoben wurden, waren deutsche Autobahnen wie leergefegt. Wegen der Einreiseverbote war der Flugverkehr lahmgelegt und Flieger parkten reihenweise am Boden. Doch selbst den öffentlichen Nahverkehr mischte die Corona-Pandemie gehörig auf, weil Bus und Bahn wenig frequentiert wurden. Nun wird befürchtet, dass viele Menschen den ÖPNV aus Angst vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus weiter meiden. 

Fahrrad-Offensive rollt
Monteure von Zeppelin Rental setzen Baken und bringen Fahrbahnmarkierungen an. Foto: Zeppelin Rental

Mit dem Hochfahren der Aktivitäten könnte der Pkw sogar stärker genutzt werden als vor der Pandemie. Ein Forscherteam unter Leitung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) hatte von Mitte März bis Mitte Mai 2020 rund tausend Menschen repräsentativ zu ihrem Mobilitätsverhalten befragt. Rund ein Drittel der Befragten gab an, aus Angst vor dem Virus statt Busse und Bahnen in der nächsten Zeit lieber das Auto nehmen zu wollen. Der deutschlandweite Anteil des Fahrrads blieb im Monatsschnitt für den Mai mit zehn gegenüber zwölf Prozent fast stabil. Über den Tagesverlauf zeigten sich hier Unterschiede. Morgens, vormittags und abends waren die Radwege leerer als sonst, in den Nachmittagsstunden wurde dagegen mehr geradelt. 

„Die Ergebnisse zeigen, wie fragil die in den letzten Jahren begonnene Verkehrswende im Sinne einer Reduktion des Autoverkehrs noch immer ist und wie groß die Kraft der über Jahre eingeübten Routinen“, sagt Andreas Knie, Leiter der Forschungsgruppe Digitale Mobilität am WZB. Die Pandemie mache die Verkehrsprobleme wie durch eine Lupe sichtbar: Busse und Bahnen blieben in der Nutzung kompliziert und seien vielfach nicht wirklich geliebt, das Fahrrad sei immer noch nicht massenverkehrstauglich und das Auto weiterhin die bequemste aller Alternativen. Anders in den Großstädten. Dort scheinen sich die Alternativen zum Auto bereits zu etablieren. „Die Pandemie könnte in den Städten die Verkehrswende weiter voranbringen, wenn der Radverkehr mehr Unterstützung  erfährt“, erklärt WZB-Forscher Weert Canzler. So registrierten die Zählstellen der Großstädte zum Beispiel in Berlin Ende Mai schon wieder so viele Radfahrer wie im Vorjahr.

Auch bisherige Carsharing-Konzepte, die vor der Corona-Krise einen regelrechten Boom erlebten, hatten plötzlich das Nachsehen. Wer Türgriffe, Lenkrad, Schaltknauf, Blinkerhebel oder Bedientasten eines Autos berührt, muss befürchten, sich das Coronavirus über eine Schmierinfektion einzufangen. Solche hervorgerufenen Verhaltensänderungen werden sich auf das bisherige Verkehrskonzept in den Innenstädten auswirken und die Mobilität in Zukunft beeinflussen. Sie führen zu einem Umstieg aufs Rad – doch bislang sind unsere Straßen für einen Velo-Ansturm nicht ausgelegt. Dazu bedarf es einer entsprechenden Verkehrsplanung.

Fahrrad-Offensive rollt
Die verbreiterten Radwege sollen als Vorbild für andere Bezirke in Berlin dienen. Foto: Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg

In mehr als 40 Städten – den Anfang machte in Deutschland Berlin und folgte damit den Beispielen New York und Bogotá – wurden inzwischen kurzfristig sogenannte Pop-up-Radspuren errichtet. Auf dem Platz, den bislang Autos beanspruchten, dürfen nun Fahrräder rollen, denn die bisherigen Straßen werden umgewandelt. Dabei wurde beispielsweise eine Fahrspur mithilfe farblicher Markierungen und Baken so vom Autoverkehr abgetrennt und Raum für Radfahrer geschaffen. Auf temporären Fahrradwegen ist es möglich, das Infektionsrisiko durch mehr Abstand zu anderen gering zu halten.  Positive Nebeneffekte: Wer Fahrrad fährt, bringt den eigenen Kreislauf in Schwung, durchlüftet die Lunge und stärkt so das Immunsystem. Pop-up-Radspuren hätten auch einen finanziellen Vorteil. Denn laut Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg senken temporäre Radwege insbesondere die Planungskosten für langfristige, bauliche Radwege deutlich. Während allein die Planungskosten im Normalfall bei rund 40 000 Euro pro Kilometer liegen, fällt die Umsetzung von temporären Radwegen deutlich günstiger aus und schlägt mit 9 500 Euro pro Kilometer zu Buche. Bei der dauerhaft baulichen Umsetzung fungieren temporäre Radverkehrsanlagen überdies als Baustelleneinrichtung. Somit entstehen mithin geringere Kosten bei der Baudurchführung. Zudem müssen für die Realisierung baulicher Radwege auf herkömmlichem Weg bislang zwei bis zehn Jahre kalkuliert werden – temporäre Anlagen ließen sich in drei bis zehn Tagen umsetzen. Nach den bisher gesammelten Erfahrungen können die Planungsfristen für die spätere bauliche Umsetzung für einen Großteil der Anlagen auf zwei bis zwölf Monate verkürzt werden. Durch die temporäre Einrichtung kann zudem schnell auf mögliche verkehrsplanerische Schwachstellen reagiert werden. Daher muss die vorherige Planung nicht jedes Detail in Perfektion erfassen. Frank Masurat, zuständig für Politik im Vorstand des ADFC Berlin, meinte über die Errichtung solcher Pop-up-Fahrradstraßen in Berlin: „Jetzt müssen andere Bezirke und Städte nachziehen.“

Auch der ACE, Deutschlands zweitgrößter Autoclub, forderte den konsequenten Ausbau sicherer, vom Auto- und Fußgängerverkehr getrennter Fahrradwege gerade in Städten. Die positiven Erfahrungen während der Corona-Beschränkungen mit schnell eingerichteten Fahrradwegen in vielen Städten müssen genutzt werden, den Ausbau separater, sicherer Radwege zu beschleunigen und so den Straßenverkehr für alle Verkehrsteilnehmer sicherer zu machen. Eine klare Trennung der verschiedenen Verkehrsmittel durch separierte Fahrbereiche schafft erheblich mehr Übersicht im Straßenverkehr. Hierin sieht der ACE nicht nur eine höhere Verkehrssicherheit, sondern auch Potenziale für einen verbesserten Verkehrsfluss: Diejenigen, die auf das Auto angewiesen sind, kommen mit weniger Stau voran, Radfahrer sowie Fußgänger kommen ebenfalls schneller und vor allem sicherer ans Ziel. Dazu Stefan Heimlich, Vorsitzender des ACE: „Die Radverkehrsplanung und -förderung muss generell auf allen  Ebenen eine gesetzliche Pflichtaufgabe sein. Die Kommunen selbst sollten mehr Entscheidungsfreiheit bekommen, um die jeweils angepasste Verkehrsführung nach den Kriterien Sicherheit, Klimaschutz, Gesundheit und flüssigem Verkehr zu gestalten.“

Im Kommen sind längst auch sogenannte Radschnellwege oder Fahrradautobahnen als Alternative für Pendler. Laut Bundesverkehrsministerium sollen mit dem Klimaschutzprogramm 2030 der Bundesregierung zusätzliche Mittel in Höhe von 900 Millionen Euro für den Radverkehr bis 2023 bereitgestellt werden. Zusammen mit den bisherigen Fördermöglichkeiten in Höhe von rund 560 Millionen Euro ergeben sich damit in Summe rund 1,4 Milliarden Euro für die Förderung des Radverkehrs und den Ausbau der Radinfrastruktur. Das können aber auch große richtungsweisende Bauwerke wie Fahrradbrücken oder Untertunnelungen für Radfahrer sein. Zudem sollen erstmals auch Infrastrukturprojekte der Länder und Kommunen vor Ort gefördert werden – etwa von Abstellanlangen und Fahrradparkhäusern an Bahnhöfen, die Umnutzung von Fahrstreifen in geschützte Radwege oder der verkehrssichere Umbau insbesondere von Kreuzungen/Knotenpunkten. So wurde es zumindest beschlossen. Doch ob das alles so kommt, wird sich zeigen. So meldete der Tagesspiegel, der sich dabei auf ein Schreiben an den Haushaltsausschuss beruft, dass Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer im letzten Jahr zwölf Millionen Euro, die eigentlich für Fahrradwege verbaut werden sollten, für den Straßenbau verwendete. Zudem hätten sich laut Tagesspiegel Fördergelder für den Ausbau des Radverkehrs aufgestaut. 2018 und 2019 seien die dafür jeweils vorgesehenen 25 Millionen Euro nicht ausgegeben worden.

Dass der Ausbau von Radschnellwegen von Radfahrern befürwortet wird, dürfte klar sein. Doch die Planung zieht auch Konflikte nach sich: So sind sie zum einen dem Naturschutz ein Dorn im Auge, wenn dann Bäume gefällt werden müssen. Zum anderen stoßen sie bei Autofahrern auf Kritik, wenn diese auf Parkplätze verzichten müssen. Für Ärger sorgten jüngst auch die in Kraft getretenen Änderungen der Straßenverkehrsordnung (StVO) – hier wirkt sich massiv das Halteverbot auf Bauunternehmen und Handwerker aus. Aus folgenden Gründen appellierte Holger Schwannecke, Generalsekretär des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, diese nochmals anzupassen:  „Handwerksbetriebe müssen Kunden und Baustellen direkt erreichen und ihre Transporter in der Nähe abstellen können. Doch was sollen sie machen, wenn die gesamte Umgebung zugeparkt ist oder Radschutzstreifen ausgewiesen sind? Kein Handwerker steht gerne in der zweiten Reihe oder auf einem Radweg, doch wie sonst soll etwa schweres Material, das für die Handwerksdienstleistung benötigt wird, ortsnah ausgeladen werden können, wenn kein Parkraum zur Verfügung steht. Das neue pauschale Halteverbot auf Fahrradschutzstreifen führt dazu, dass Fahrer im Handwerk sehr schnell mit „Punkten“ und dem Führerscheinverlust bedroht werden. Der öffentliche Straßenraum ist ein knappes Gut. Es sind Konzepte notwendig, um vorausschauend Konflikte zwischen allen notwendigen Verkehren zu vermeiden.“

Hier ist die Verkehrsplanung gefordert, doch dabei kommt es immer wieder zu Verzögerungen, sodass sich Radschnellwege doch nicht so schnell umsetzen lassen, wie es viele gerne hätten. Bestes Beispiel: der Radschnellweg Ruhr (RS1). Der erste Streckenabschnitt über fünf Kilometer wurde bereits Ende 2015 zwischen der Stadtgrenze zu Essen und dem Hauptbahnhof Mülheim eröffnet. Im Endausbau soll er auf gut hundert Kilometern zehn Städte zwischen Duisburg und Hamm miteinander verbinden und quer durchs Ruhrgebiet führen. Doch es hakte wegen Hürden im Planungsrecht oder auch wegen langwieriger Abstimmungsprozesse. Städte wie Duisburg, Bochum, Dortmund und Hamm haben die Realisierung der Strecke auf ihrem Stadtgebiet übernommen. Die Abschnitte in Mülheim an der Ruhr, Essen, Gelsenkirchen, Unna, Kamen und Bergkamen werden durch Ingenieure der Regionalniederlassung Ruhr von Straßen.NRW geplant. Kein leichtes Geschäft, lagen doch bis vor Kurzem noch nicht einmal verbindliche Standards für den Bau von Radschnellwegen vor. Doch nun nehmen die Projekte Fahrt auf. Sebastian Artmann, Projektleiter für den RS1 in der Straßen.NRW-Regionalniederlassung Bochum, ist zuversichtlich: „Es ist sicherlich in den nächsten Jahren mit Baustarts auf einem Großteil der Strecke zu rechnen.“

Der RS1 ist einer von sieben geplanten Radschnellwegen in Nordrhein-Westfalen. Straßen.NRW setzt dabei auf eine enge Zusammenarbeit mit den Kommunen, auch um die Planungsprozesse zu beschleunigen. Die Radautobahnen sollen einen Beitrag zur vernetzten Mobilität leisten, darum wird mit Hochdruck an der Realisierung gearbeitet. Allerdings: Damit die Nutzer bald schnell vorankommen, muss im Vorfeld gründlich geplant und gut gebaut werden. „Und dafür brauchen wir Zeit“, bremst Straßen. NRW-Direktor Dr. Sascha Kaiser die Erwartung, dass ein Radschnellweg im Handumdrehen fertiggestellt ist. Darum soll gemeinsam mit den Kommunen die Planung der Radinfrastruktur nach vorne gebracht werden, damit Projekte nicht an fehlenden Planungskapazitäten scheitern. „Wir haben daher in vielen Bereichen Planungsvereinbarungen mit den Städten geschlossen, damit sie auf ihrem Stadtgebiet die Projekte vorantreiben können“, stellt Dr. Kaiser klar. Wichtig sei darum, auch bei den Radschnellweg-Projekten die Öffentlichkeit frühzeitig mit einzubinden. „Wir müssen auch beim Bau eines Radschnellweges, der ja den Status einer Landesstraße hat, alle Schritte rechtlich sauber abarbeiten“, sagt Kaiser. Das ziehe die Verfahren leider teilweise in die Länge. Zu Verzögerungen kann es auch kommen, wenn im Zuge der Umweltverträglichkeitsstudie eine Artenschutzprüfung durchgeführt werden muss und betroffene Träger öffentlicher Belange wie Höhere und Untere Naturschutzbehörde beteiligt sind.

Juli/August 2020