Explosive Baustellen

Bauen kann gefährlich sein – noch immer wirkt das Erbe des Zweiten Weltkriegs nach. Durch die Vielzahl der Baugruben in den Innenstädten kommen verstärkt Kampfmittel ans Licht, wenn der Baugrund ausgebaggert wird. Beinahe täglich werden die tickenden Zeitbomben entdeckt, die nach wie vor nicht detoniert sind, allerdings jederzeit explodieren könnten. Heimtückisch: Sie liegen häufig auf Flächen, die bereits in den Nachkriegsjahren wieder bebaut wurden. Langzeitversuche mit TNT haben gezeigt, dass der eingesetzte Sprengstoff nahezu unbegrenzt haltbar ist und seine Wirksamkeit beziehungsweise Sprengkraft über 70 Jahre nach Kriegsende nicht eingebüßt hat. Ein bis zwei Selbstdetonationen pro Jahr sind gang und gäbe. Mit den Kampfmitteln wird sich Deutschland noch viele Jahrzehnte beschäftigen müssen, wenn es nach Experten geht. Denn die Überreste der vermutlichen 1,4 Millionen Tonnen Bombenlast, die im Zweiten Weltkrieg über Deutschland abgeworfen wurde, schlummern bis heute unter der Erde.

Je mehr auf Baustellen gebaggert wird, desto häufiger kommen sie ans Licht: Altllasten aus dem Zweiten Weltkrieg. Foto: Thorben Wengert/www.pixelio.de

Kampfmittel der Artillerie und Infanterie werden im Regelfall bis zu 1,50 Meter unter Geländeoberkante entdeckt. Demgegenüber werden Bombenblindgänger in den meisten Fällen in bis zu acht Metern Tiefe, in besonderen Fällen jedoch auch in bis zu 20 Meter unter Geländeoberkante gefunden, wissen die Experten, welche die gefährlichen Kriegs-Altlasten aufspüren müssen. In der Regel bekommt die Öffentlichkeit von der Entschärfung der Kampfmittel kaum etwas mit, doch manchmal müssen ganze Stadtviertel evakuiert werden, wie diesen April in Paderborn, als über 26 000 Menschen ihre Wohnungen räumen mussten. 1,8 Tonnen wog die Fliegerbombe, die unschädlich gemacht wurde. Die größte Evakuierung in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands stand 2017 den Frankfurtern bevor, als 60 000 Menschen vor 1,4 Tonnen Sprengstoff in Sicherheit gebracht werden mussten. Laut einer Umfrage des MDR sollen seit den 90er-Jahren bis heute in den Bundesländern 150 000 Bomben und 70 000 Tonnen andere Kampfmittel entschärft und beseitigt worden sein.

Glückt die Entschärfung der Bombe nicht – etwa, wenn der Zündmechanismus nicht entfernt werden kann, muss der Kampfmittelräumdienst eine kontrollierte Sprengung in die Wege leiten. Doch dass das auch schiefgehen kann, zeigte sich 2012. Dort wurde im Münchner Stadtteil Schwabing eine 250 Kilo schwere Bombe gesprengt – zur Dämmung der Detonation wurde Stroh verwendet, das sich fatalerweise entzündete und sich mit der Druckwelle ausbreitete. Die Konsequenz: Eine Boutique fing Feuer und brannte ab. Auch andere umliegende Gebäude nahmen schwere Schäden. Wer kommt für eventuelle Schäden an Häusern und Einrichtung auf, wenn Blindgänger Schäden an einem Gebäude anrichten? „Nicht jede Versicherung zahlt in solchen Fällen. Versicherungskunden sollten daher beim Abschluss darauf achten, dass in diesen Fällen auf die sogenannte Kriegsausschlussklausel verzichtet wird“, heißt es seitens der VHV.

Kunden sollten laut der Versicherung ihre Hausrat- und Gebäudeversicherungen überprüfen, ob diese Schäden dort auch gedeckt sind. Um die Risiken dabei zu minimieren, unterstützt das Bundesforschungsministerium bis 2019 das Projekt Deflag. Forscher sollen ein mobiles System entwickeln, bei dem die Stahlhülle eines Blindgängers mit einem Laserstrahl systematisch eingekerbt und geschwächt wird. Bei der kontrollierten Sprengung kommt es so nicht mehr zur Explosion, sondern die Bombe verpufft. Auch auf dem Grund der Nord- und Ostsee lauern noch die Hinterlassenschaften kriegerischer Auseinandersetzungen.

1,6 Millionen Tonnen Kampfmittel in deutschen Hoheitsgewässern vermutet

Aktuelle Schätzungen des Bund- und Länder-Ausschusses Nord- und Ostsee Blano beziffern die Menge mit etwa 1,6 Millionen Tonnen Kampfmittel allein in deutschen Hoheitsgewässern. Die größte Gefahr bei der Räumung geht von den in der Munition enthaltenen Explosivstoffen aus. Damit befassen sich nun Forscher des Fraunhofer-Instituts für Chemische Technologie ICT in Pfinztal gemeinsam mit der Uni Leipzig sowie mehreren Industriepartnern im Projekt robotisches Unterwasser- Bergungs- und Entsorgungsverfahren, inklusive Technik zur Delaboration von Munition im Meer. Ein wichtiger Aspekt beim Munitions- und Sprengstoffhandling bis hin zur Entsorgung ist daher, die Verfahrenstechnik so auszulegen, dass das in diesen Fällen unvermeidliche Restrisiko minimiert wird. Dabei soll eine teilautomatisierte Delaborierung, Verarbeitung und Entsorgung von Kampfmitteln direkt am Fundort, also ohne Transportwege, entwickelt werden.

Besonders für öffentliche wie private Bauherren ist es oftmals vor allem finanziell ein unkalkulierbares Risiko auf noch nicht untersuchtem Gelände zu bauen. Vielfach kommt es zu zeitlichen Verzögerungen und somit zu zusätzlichen Kosten, vor allem wenn Blindgänger kontrolliert gesprengt und Verwaltung, Polizei, Feuerwehr und der Kampfmittelräumdienst eingeschaltet werden müssen, weil umfangreiche Evakuierungsmaßnahmen notwendig werden. Aber auch für Bauunternehmen können Baustellen, auf denen Blindgänger liegen, ein hohes Risiko bergen, da es zu Verletzungen oder gar Todesfällen kommen kann. Moderne Technik etwa an Baumaschinen wie gepanzerte Scheiben oder ein gepanzerter Unterwagen macht die gefährliche Arbeit sicherer, aber hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht: 2014 traf die Baggerschaufel in Euskirchen auf einen Sprengkörper, als der Maschinist Bauschutt umschlagen wollte. Er war auf der Stelle tot und seine Baumaschine ging in Flammen auf.

Kostenloses Merkblatt „Kampfmittelfrei bauen“

Weil nicht selten grundlegende Kenntnisse bei den Bauverantwortlichen fehlen und damit große wirtschaftliche Nachteile durch Bau-Stillstände, Evakuierungen und im Falle von Explosionen Bauwerkssowie sonstiger Schäden drohen, hat der Verein zur Förderung fairer Bedingungen am Bau das kostenlose Merkblatt „Kampfmittelfrei bauen“ entwickelt. Es gibt Tipps, wie sich Bauherren, Auftraggeber, Planer und Bauunternehmen verhalten sollen, um Blindgänger ausschließen zu können. Darin enthalten sind auch Informationen, wie sie vorgehen müssen, falls ein verdächtiger Gegenstand auftaucht. Die Arbeitshilfe bietet arbeitsschutzrechtliche und berufsgenossenschaftliche Regeln rund um Kampfmittelerkundung und -räumung. Bauunternehmen dürfen mit den Bauarbeiten erst beginnen, wenn ihnen bei einem öffentlichen Bauauftrag eine Bestätigung nach ATV DIN 18299, Abschnitt 0.1.17 VOB/C beziehungsweise bei einem privaten Auftraggeber eine gleichwertige ordnungsgemäße Freigabe vorliegt. Diese kann nur eine autorisierte Fachstelle/-behörde beziehungsweise ein autorisiertes Fachunternehmen – beauftragt durch den Bauherrn – erteilen. Liegt keine Bestätigung der ordnungsgemäßen Kampfmittelfreiheit vor, ist unverzüglich eine Bedenkenanzeige und eine Behinderungsanzeige gegenüber dem Auftraggeber zu übermitteln – und zwar in Schriftform. Beim ersten Anfangsverdacht sind die Arbeiten auf der Baustelle unverzüglich einzustellen. Alle Mitarbeiter müssen den gefährdeten Bereich sofort verlassen und dieser muss gegen Zutritt gesichert werden. Dann müssen Verantwortliche und umgehend die Polizei verständigt werden. Grundsätzlich besteht eine Aufklärungs- und Unterweisungspflicht hinsichtlich der von Kampfmitteln ausgehenden Gefahren gegenüber allen eigenen Mitarbeitern, die auf der Baustelle tätig sind. Diese Unterweisung muss entsprechend dokumentiert werden. Jegliche Erkundungsarbeiten nach Kampfmitteln dürfen nur speziell geschulte und zugelassene Fachunternehmen durchführen. Dies gilt insbesondere auch, sollten Sondierungsbohrungen als Hilfsleistung im Rahmen der Kampfmittelerkundung ausgeführt werden müssen. Unternehmer müssen sich gegenseitig und ihre Beschäftigten über die von Kampfmitteln ausgehenden Gefahren für die Beschäftigten unterrichten und Maßnahmen zur Verhütung dieser Gefahren abstimmen. Sie müssen sich vergewissern, dass die Beschäftigten anderer Arbeitgeber, die auf der Baustelle tätig werden, hinsichtlich dieser Gefahren angemessene Anweisungen erhalten haben.

Die Gefahr lässt sich durch die Auswertung von Luftbildern minimieren. Nach den Bombenangriffen flogen regelmäßig Aufklärer über Deutschlands Städte und fotografierten die getroffenen Gebiete, um das Ausmaß der Angriffe sowie die Einschlaglöcher zu erfassen. Um Grundstücke und Areale hinsichtlich ihrer Kampfmittelbelastung einschätzen zu können, ist die Auswertung historischer Luftbilder der Alliierten aus dem Zweiten Weltkrieg für die Experten vom Kampfmittelräumdienst ein unverzichtbares Hilfsmittel. Neben der Erfahrung der Luftbildauswerter und weiteren Archivalien spielt dabei auch die Qualität der Bilder eine große Rolle. Daher ließ das Landeskriminalamt Schleswig-Holstein 26 000 Luftbilder im letzten Jahr in einer Kooperation mit den Werkstätten Materialhof und Rendsburg- Fockbek neu scannen. Wo vorher nur unscharfe Konturen zu sehen waren, sind Bombenkrater und Verdachtspunkte für Blindgänger nun deutlich zu erkennen. „Wir sind begeistert von der Güte der Bilder“, fasst Uwe Kuenzel, Leiter des Kampfmittelräumdienstes, das Ergebnis zusammen. Luftbildauswerter Kai Jensen hat das Projekt für den Kampfmittelräumdienst betreut und weiß, wieviel Arbeit dahintersteckt. „Die gesamte Datenbank musste aktualisiert und jedes Bild einzeln auf den Scanner gelegt werden.“ Positiver Nebeneffekt: „Wir wissen jetzt genau, wo welches Bild zu finden ist.“ Der Bildbestand umfasst insgesamt 74 518 Luftbilder, die jetzt alle in digitalisierter Form vorliegen. „Nach Schätzungen haben die Alliierten ungefähr 150 000 Luftbilder von Schleswig-Holstein gemacht“, sagt Jensen. Es gibt Vorher-/Nachher-Bilder der Luftangriffe, auf denen die Bombenabwürfe und ihre Wirkung genau dokumentiert sind. Das historische Material hat seinen Preis: 65 Euro kostet ein einzelnes Bild, das laut Staatsvertrag nur zweckgebunden genutzt werden darf. Die Bilder sollen Informationen über Verdachtsflächen und Kampfmittelbelastung liefern – in möglichst guter Auflösung. Alan Bock, Leiter der Luftbildauswertung, ist mit seinem fünfköpfigen Team darauf spezialisiert, die stecknadelkopfgroßen Verdachtspunkte auf den Fotos zu erkennen und zu analysieren. Es gilt: Wo Bomben gefallen sind, könnten noch Blindgänger liegen. Dass jetzt alle Luftbilder in hoher Auflösung digital zur Verfügung stehen, betrachtet Bock als großen Fortschritt. „In digitaler Form können wir die Bilder nicht nur schneller finden, sondern auch direkt am Bildschirm mit aktuellen Luftaufnahmen vergleichen.“ Diese Aufnahmen helfen, wenn Bauarbeiten anstehen, Blindgänger rechtzeitig zu erkennen und den Einsatz von Technik zu planen.

Seit Mitte August 2017 gibt es erstmals bundesweit eine akademische Ausbildung für Kampfmittelräumung. Der neue achtwöchige postgraduale Studiengang „Fachplaner Kampfmittelräumung“ wird an der Universität der Bundeswehr München angeboten und von mehreren Kooperationspartnern, wie der Deutschen Bahn und der Berufsgenossenschaft Bau, getragen. Hauptinitiatoren sind die Universität der Bundeswehr München und die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben. Für Professor Conrad Boley, Leiter des Instituts für Bodenmechanik und Grundbau an der Universität der Bundeswehr München und akademischer Leiter des Studiengangs, war es höchste Zeit für eine neue fundierte Ausbildung: „Für die Kampfmittelräumung ist ingenieurtechnisches Know-how enorm wichtig. Dies gilt für die fachgerechte Begutachtung von Kampfmittelverdachtsfällen und die Planung von Räummaßnahmen, als auch für die qualifizierte Überwachung der Arbeiten.“ Bisher gebe es kein qualifiziertes Berufsbild für die Kampfmittelräumung.

Mai/Juni 2018