Das Gebäude vor Baubeginn begehen

Virtuelle Realität stößt derzeit auf viel Faszination. Dabei taucht der Nutzer mithilfe einer speziellen Brille in eine virtuelle dreidimensionale Umgebung ein und kann sich sogar in ihr bewegen. Inzwischen hat nicht nur die Entertainment-Branche oder Pornoindustrie die Technologie entdeckt, sondern Ärzte üben virtuell komplexe Operationen. Die Automobilbranche entwickelt neue Modelle, deren Features Kunden sofort virtuell erleben können. Im Zuge von Wartungsarbeiten oder Reparaturen erhalten Servicetechniker Anleitungen direkt auf ihre VR-Brille und müssen nur noch die Instruktionen Schritt für Schritt verfolgen. Und Architekten arbeiten mit digitalen Gebäudedaten, die sie für Bauherren visualisieren. Über die Möglichkeiten und Grenzen der virtuellen Realität sprach das Deutsche Baublatt mit Dietmar Bernert, Director Corporate Strategic Accouncts bei Trimble.

Mit der Mixed-Reality-Brille von Microsoft können komplexe räumliche Situationen durch die dreidimensionale Darstellung klarer nachvollzogen und einfacher kommuniziert werden.

Deutsches Baublatt: Noch hat man derzeit den Eindruck, Virtual Reality ist eher was für Messen oder für Computerspieler. Wann erlebt Virtual Reality auf der Baustelle den großen Durchbruch?

„Eine der größten Herausforderungen für die Bauindustrie ist es, dem Kunden Ideen und Entscheidungen klar und einfach zu vermitteln. „

Dietmar Bernert: Virtual Reality macht auf jeden Fall einen großen Eindruck auf einer Messe oder im Entertainment-Bereich, denn das Gezeigte wird intuitiv erlebbar. Unser Fokus in der Bauindustrie liegt hingegen in der Mixed Reality, das heißt, in der Überlagerung der Realität mit virtuellen Informationen. Hier liegen die Vorteile eher in der Vermittlung von Informationen und der Zusammenarbeit. Eine der größten Herausforderungen für die Bauindustrie ist es, dem Kunden Ideen und Entscheidungen klar und einfach zu vermitteln. Der Übergang von klassischen 2D-Zeichnungen zu vernetzten 3D-Gebäudemodellen, die das Gebäude schon vor seiner Fertigstellung simulieren können, ist bereits seit längerem im Gange. Mit Mixed Reality gehen wir noch einen Schritt weiter: Wir können das Gebäude schon begehen, bevor es gebaut wird. Damit können die Nutzer ein Gefühl für das Bauwerk bekommen und entscheiden, ob der Entwurf überzeugt.

Deutsches Baublatt: Wo sehen Sie für ein Bauunternehmen die größten Anwendungsmöglichkeiten?

Dietmar Bernert: Wir haben natürlich primär die ganz praktischen Anwendungsmöglichkeiten von Mixed Reality im Blick. Beispielsweise unser Partner Aecom, der SketchUp Viewer bereits einsetzt, nutzt mehrere HoloLens-Geräte (Anmerkung der Redaktion: eine Mixed-Reality-Brille, die dem Benutzer erlaubt, interaktive 3D-Projektionen in der direkten Umgebung darzustellen) für die gemeinsame Arbeit an einem Modell über verschiedene Standorte hinweg. Kollegen aus London, Denver und Hong Kong können gemeinsam das Modell „begehen“, die nächsten Schritte besprechen und ihrem Team genau vermitteln, um welchen Gebäudeteil es sich dreht. Ein anderer Kunde nutzt die Lösung, um Arbeitsprozesse zu verbessern und virtuell durchzuspielen, bevor sie in der Realität ausgeführt werden. Auch für Trainings und Schulungen gibt es spannende Anwendungsmöglichkeiten.

Deutsches Baublatt: Was dürfen Baufirmen von Trimble im Bereich Mixed Reality (MR) erwarten?

Dietmar Bernert: Mit unserer Lösung Trimble Sketch-Up Viewer können Nutzer auf der Baustelle sowie im Büro 3D-Modelle digital auf die reale Welt projizieren und mit den Modellen interagieren. Die Lösung wurde bereits in mehreren Pilotprojekten eingesetzt, die wertvolle Erkenntnisse für die Weiterentwicklung geliefert haben.

Deutsches Baublatt: An welchen MR-Lösungen wird derzeit bei Ihnen gearbeitet?

Dietmar Bernert: Unsere neue Mixed-Reality-Lösung für die Datenbrille Microsoft Hololens ermöglichen es, 3D-Modelle beispielsweise von Trimble SketchUp und Tekla Structures holografisch auf die reale Welt zu projizieren. Darüber hinaus unterstützen unsere Softwarelösungen aus dem Mixed-Reality-Programm auch Google Tango und Oculus Rift. Entwickelt sich die Branche weiter, kann unsere Plattform problemlos für die Anwendung mit neuen Geräten ausgebaut werden. Unser Fokus ist es, Lösungen zu bieten, die den Anforderungen des Marktes gerecht werden, unabhängig von der verwendeten Hardware.

Mithilfe von HoloLens-Geräten können die Projektbeteiligten gemeinsam das Modell besprechen und können Teamkollegen an anderen Standorten vermitteln, welchen Teil des Modells sie selbst gerade betrachten. Fotos: Trimble

Deutsches Baublatt: In wieweit wird Mixed Reality Prozesse und Abläufe auf Baustellen verändern – Stichwort Baukontrolle, Umgang mit Änderungen, …?

Dietmar Bernert: Mixed Reality wird ganz neue Arbeitsabläufe für Architekten, Ingenieure, Planer und Gebäudemanager ermöglichen. Hier wäre es beispielsweise vorstellbar, ein besonderes Bauwerk an jedem Ort der Welt erlebbar machen zu können. Aecom nutzt, wie schon gesagt, mehrere HoloLens-Geräte für die gemeinsame Arbeit an einem Modell über verschiedene Standorte hinweg. Auch für Schulungen und Trainings bietet Mixed Reality großes Potenzial, zum Beispiel, wenn das Bauteam sich auf einen besonders herausfordernden Bauabschnitt vorbereitet.

Deutsches Baublatt: Stuttgart 21 hat deutlich gemacht: Großprojekte bergen Konfliktpotenzial zwischen Auftraggebern und Bürgern. Mithilfe der virtuellen Realität könnte die Stadtplanung simuliert und dadurch anschaulicher werden. Wie wird sich das auf Planungsprozesse auswirken?

Dietmar Bernert: Stellen Sie sich vor, ein Bauwerk wie die Elbphilharmonie wird holografisch projiziert. Alle Projektbeteiligten und die Kunden können sich frei in diesen Mixed-Reality-Räumen bewegen, dabei Ideen austauschen und den Entwurf verbessern. Das Gebäude wird intuitiv verständlich und greifbar. Darüber hinaus ist es möglich, Ausführungsvarianten zu vergleichen. Durch Mixed Reality können Sie beispielsweise in einem bestehenden Gebäude vor Ort verschiedene Umbaukonzepte betrachten.

Deutsches Baublatt: Es gibt auch kritische Stimmen, die der Visualisierungen unterstellen, eine heile Welt vorzugaukeln, in der die Architektur zu perfekt ist und nicht mit der Realität übereinstimmt. Besteht nicht die Gefahr, bei VR/MR die Bodenhaftung und den Realitätssinn zu verlieren?

Dietmar Bernert: Im Gegenteil. Bei unseren Mixed-Reality-Lösungen handelt es sich um viel mehr, als reine Visualisierung. Die Gebäudemodelle entsprechen dem Bauwerk, so wie es später entstehen wird, mit der nötigen Detailtiefe und Informationsfülle für die Ausführung. Mixed Reality eröffnet dabei neue Möglichkeiten, Modell und Realität abzugleichen, sodass wir uns ein realistischeres Bild von der Planung machen können.

Übergang von klassischen 2D-Zeichnungen zu vernetzten 3D-Gebäudemodellen, die das Gebäude schon vor seiner Fertigstellung virtuell nachbilden.

Deutsches Baublatt: Während sich viele Bauausführende noch fragen, ob und wie sie BIM (Building Information Modeling) in ihre Prozesse integrieren können, rollt schon die nächste Welle an Technologie auf Firmen zu. Da kann derzeit doch kein Mensch mehr Schritt halten. Was raten Sie einem Unternehmen, wie es mit der rasanten Entwicklung umgehen soll?

Dietmar Bernert: Natürlich wird es immer Unternehmen geben, die neue Technologien früher adaptieren als andere. Unsere Kunden wie Aecom oder der Architekt Greg Lynn, welche die Technologien schon heute in ihren Projekten testen, gehören dabei zu den Vorreitern. Meine Empfehlung wäre aber, grundsätzlich offen für Veränderungen in der Branche, neue Arbeitsweisen und technologische Möglichkeiten zu sein. Wir sollten uns nicht an veraltete Arbeitsweisen klammern, nur weil die Dinge schon immer so gehandhabt wurden. Der Baubranche steht sicher noch eine Fülle an Innovationen bevor, die wir uns heute vielleicht nicht einmal vorstellen. Wir freuen auf jeden Fall zu sehen, wohin die Reise geht.

Deutsches Baublatt: Was können Sie Bauunternehmen empfehlen, die in diese Technologie investieren wollen?

Dietmar Bernert: Zunächst einmal empfehle ich den Unternehmen, sich zu überlegen, in welchen Bereichen sie dieses Thema für sich als vorteilhaft sehen. Danach bietet es sich erst an, verschiedene MR-Systeme zu testen, wie etwa das Verhalten unter unterschiedlichen Einsatzbedingungen, zum Beispiel in geschlossenen Räumen oder im Außeneinsatz mit unterschiedlichen Lichtverhältnissen.

Deutsches Baublatt: Was waren eigentlich Ihre ersten Erlebnisse mit MR?

Dietmar Bernert: Persönlich bin ich begeistert davon, welche Möglichkeiten sich zur interaktiven Zusammenarbeit über verschiedene Standorte hinweg durch unsere Technologie eröffnen. Bei Trimble haben wir vor kurzem mit Mitarbeitern an zwölf Standorten weltweit über SketchUp Viewer an einem Projekt gearbeitet. Es waren Kollegen aus Helsinki und London dabei, aus Indien, aus Kalifornien und aus Christchurch in Neuseeland, und wir sind alle gleichzeitig durch dasselbe virtuelle Gebäude gelaufen und haben unsere Ideen besprochen. Die fast grenzenlose Freiheit, Gebäude real zu erleben, obwohl es sie physikalisch noch nicht gibt: Das war wirklich faszinierend.

März/April 2017