360-Grad-Perspektiven

Smartphones dienen inzwischen nicht mehr nur dem Versenden von E-Mails, WhatsApp-Nachrichten oder Posts auf Facebook, sondern inzwischen trägt man sie auf der Nase. Wer sie an einer Virtual- Reality-Brille befestigt, erhält außergewöhnliche 360-Grad-Perspektiven und kann abtauchen in 3D-Welten. Virtual Reality (virtuelle Realität oder kurz „VR“) ist ein neues Medium, bei dem der Betrachter in eine künstliche Umgebung versetzt wird. Trägt der Anwender eine VR-Brille, wird er Teil des gezeigten Inhalts und kann sich darin in Echtzeit frei bewegen, indem er durch Kopfdrehen selbst den Bildausschnitt bestimmt – dem Blickwinkel sind keine Grenzen gesetzt. VR gilt als Technologie der Zukunft und soll die nächste Ära im Computerzeitalter einläuten – nicht umsonst widmete gerade die Cebit dem Thema eine halbe Halle. VR-Brillen sind längst nicht nur etwas für Computerspiele, sondern inzwischen hat auch die Baubranche die Technologie für sich entdeckt.

Da ist der Architekt, der auf Virtual Reality zurückgreift, um Häuser digital zu planen und dann seinen Bauherren mittels eines virtuellen Rundgangs näherzubringen. Mit der gleichen Technik, die auch bei Computerspielen zum Einsatz kommt, stellt VR sicher, dass die Umgebung möglichst realistisch aussieht. Anders als 2D-Pläne können sich Laien, denen es nicht leicht fällt, Bauzeichnungen zu lesen, anhand der 3D-Visualisierung viel besser vorstellen, wie das Bauwerk fertig ausschaut. Frühzeitig kann sich ein Bauherr Gedanken machen, wo er seine Anschlüsse haben will, und entsprechende Entscheidungen treffen, die später nicht zu Verzögerungen führen, oder das Budget überziehen, weil Korrekturen nötig sind. Softwarehersteller Allplan präsentierte auf der Bau 2017 zusammen mit seinem Partner EDV-Software-Service, wie sich auf Basis seiner BIM-Plattform in Kombination mit einer 3D-Brille virtuelle Rundgänge durch ein Bauwerksmodell realisieren lassen, um Bauherren eine realitätsnahe, räumliche und gestalterische Vorstellung ihres Bauprojekts geben zu können. Wie hoch ist eine Decke, wie groß sind die Fenster, wie ist der Sonnen- und Schattenverlauf über das gesamte Jahr, wie wirken unterschiedliche Materialien oder wie ist die Atmosphäre eines Raumes? Fragen wie diese lassen sich mithilfe der virtuellen Realität besser beantworten und unmittelbarer klären als mit klassischen Bildern oder Videos. „So helfen wir einmal mehr dabei, Planungsfehler früher zu erkennen und noch vor der Bauphase zu beheben. Wir bringen die Kommunikation im Planungsprozess auf ein neues Level und verschaffen unseren Kunden einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil“, stellte Markus Tretheway, Vizepräsident vom Produktmanagement bei Allplan, in München fest.

Die spätere Architektur digital simulieren. Foto: Trimble

Wenn bereits durch den Einsatz von BIM oder Building Information Modeling digitale Gebäudedaten in 3D vorliegen, lassen sich Virtual-Reality-Fähigkeiten auch in moderne Planungs- und Arbeitsmethoden beim Bauen integrieren. Beim größten Infrastrukturprojekt in Europa, dem Londoner Crossrail, erhalten Baubeteiligte über VR-Headsets einen 360-Grad-Blick auf die virtuellen Bauwerke. Baubeteiligte, die am gleichen Projekt arbeiten und ebenfalls so ein Headset tragen, können sich über Änderungen und Anpassungen austauschen, ohne im gleichen Büro sitzen zu müssen.

Auch wenn Bauprojekte auf Widerstand und Proteste stoßen, lassen sich städtebauliche Großprojekte mithilfe von VR simulieren und visualisieren. Somit lässt sich nachvollziehen, was eine Verlängerung der Start- und Landebahn oder der Ausbau einer Autobahn für Anwohner bedeutet. Mitarbeiter des Fraunhofer- Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation in Stuttgart sind, was die Abbildung virtueller Umgebungen betrifft, schon weiter vorangeschritten. Indem Bürger nicht nur Baupläne in der virtuellen Realität betrachten können, sondern auch Kommentare hinterlassen können, ist es möglich, sie besser einzubinden und sie Bauvorhaben mitgestalten zu lassen.

Ein Beispiel dafür ist auch die geplante Berliner Autobahntrasse A100 – ein journalistisches VR-Projekt in Kooperation mit dem Rundfunk Berlin-Brandenburg, bei dem in einer interaktiven Web-App für den Browser sowie als lineare Animation für die Verwendung in Video und TV der 17. Bauabschnitt visualisiert wurde. Die Intention der Anwendung: sicht- und hörbar zu machen, wie sich der Autobahnbau auf das Stadtbild auswirkt. Wer sich darauf einließ, konnte anhand verschiedener Positionen entlang der Strecke sich virtuell ein Bild vom Ausmaß der Autobahntrasse machen – etwa anhand von 180-Grad- oder 360-Grad- Fotos und -Filmen sowie Tonaufnahmen. Dass sich VR-Anwendungen nicht nur auf die Innenarchitektur beschränken, zeigt das Baustellenmarketing rund um Stuttgart 21, das ebenfalls auf 3DBrillen setzt, um Besuchern virtuell das Bauvorhaben anschaulich zu machen. 2015 wurde damit begonnen, neue Medien in der Ausstellung im Turmforum im Stuttgarter Bahnhofsturm zu integrieren. Das Bauprojekt sollte virtuell erlebbar werden. Besucher können zum einen den Bau des Bahntunnels Bad Cannstatt in Form eines 3D-Films kennenlernen und sich im Film komplett 360 Grad auf der Baustelle umschauen.

Sie können sich von den Maschinen im Untergrund zeigen lassen, wie Tunnelbau nach bergmännischer Bauweise funktioniert. Ein weiteres VR-Erlebnis bietet ein Rundgang durch den künftigen Stuttgarter Hauptbahnhof. Ein interaktives 3D-Modell für eine VR-Brille ermöglicht schon heute einen Blick auf die später gebaute Architektur. 2017 wurde das virtuelle Angebot ausgebaut. So können mittlerweile der komplette neue Hauptbahnhof – historischer Bonatzbau und neue Verkehrsstation – am heimischen PC und am Smartphone interaktiv betrachtet und durchlaufen werden: 20-Panorama-Punkte erlauben einen 360-Grad-Blick in die Zukunft. Mit dem Smartphone und einer entsprechenden VR-Brille ist das Modell unter www.vr.s21erleben.de für jedermann zu jederzeit abrufbar.

Ein anderer Aspekt betrifft die Sicherheit auf Baustellen. Ein Forscherteam unter Leitung von Professor Dr. Markus König vom Lehrstuhl für Informatik im Bauwesen der Ruhr-Universität Bochum hat Virtual Reality auf Baustellen übertragen und sich überlegt, diese sicherer zu machen und Gefahren zu reduzieren. Denn weltweit kommen Jahr für Jahr rund 60 000 Bauarbeiter um. Anhand der VR-Technik ließen die Wissenschaftler Gefahrenquellen bei Baustellen virtuell erlebbar werden. Entwickelt wurden Virtual-Reality-Schulungen, die für Arbeitsschutzexperten gedacht sind, die Baustellen vorab auf Unfallgefahren hin unter die Lupe nehmen und entsprechende Sicherheitsmaßnahmen einläuten. Zudem können auch Bauarbeiter virtuell für Gefahren sensibilisiert werden. Anhaltspunkt der Forscher war: 3D-Modelle sind die Basis für die virtuelle Realität. Jedes große Bauvorhaben wird zunächst digital geplant, bevor es realisiert wird, sodass eine Vorab-Begehung erarbeitet wird. Anhand dieser wird die Baustelle auf potenzielle Gefahren überprüft und entsprechende Sicherheitsmaßnahmen werden erarbeitet.

Dass VR auch Grenzen hat, sieht die Architektenkammer Berlin, die sich an einer beschönigenden Visualisierung und einer heilen Welt stößt, weil alles aufgeräumt in hellem Licht erscheint. Baulärm und Staub bleiben in der virtuellen Welt außen vor. Doch auch der Technologie selbst sind immer noch Grenzen gesetzt. Nur wenige Anwender haben überhaupt hochauflösende Virtual-Reality-Brillen und genügend Rechnerleistung, die eine detaillierte Gestaltung des virtuellen Raums erlaubt.

März/April 2017