„Wer aus Niederlagen nichts lernt, rennt Siegen ewig hinterher“

Der frühere Mercedes-Benz-Motorsportchef Norbert Haug zieht Lehren aus dem Motorsport für das Geschäftsleben

Wie erreicht man immer wieder aufs Neue die Pole-Position – ob im Rennsport oder im Geschäftsleben? Einer, der es wissen muss, ist Norbert Haug. 22 Jahre lang war er Motorsportchef von Mercedes-Benz. Unter seiner Führung gewann Mercedes mit seinen Partnerteams zwischen 1998 und 2009 insgesamt vier Formel-1-Fahrer- und zwei Konstrukteurs-Weltmeistertitel. Von über 900 Rennen in allen wichtigen Motorsport-Kategorien holte Mercedes unter seiner Leitung über 400 Siege, davon mehr als 80 in der Formel 1 und über 140 in der DTM. Beim jährlichen Vertriebs-Kick-off von Zeppelin, das diesmal am legendären Nürburgring stattfand, war Norbert Haug der Stargast. Er reichte seine Tipps weiter, etwa wie es gelingt, Siege zu erzielen und die führende Position zu verteidigen. Mit ihm unterhielt sich im Vorfeld Fred Cordes, Vorsitzender der Geschäftsführung bei Zeppelin Baumaschinen, über Parallelen zwischen Motorsport und Vertrieb. 

Norbert Haug und Fred Cordes
Norbert Haug (links), der ehemalige Motorsportchef von Mercedes-Benz, erklärte Fred Cordes (rechts), Vorsitzender der Geschäftsführung bei Zeppelin Baumaschinen, die Basis für Erfolg: „Bei Siegen ist unbändige Freude sehr wichtig – aber dabei auf dem Boden zu bleiben ist noch wichtiger. Ein stetes Hinterfragen, das in ein permanentes Verbesserungsprogramm mündet, ist die Basis.“ Fotos: Zeppelin/Sabine Gassner

FRED CORDES: Welche besonderen Höhepunkte Ihrer Karriere verbinden Sie mit der Rennstrecke des Nürburgrings, dem Ort des Zeppelin Vertriebs-Kick-off?

NORBERT HAUG: Der Nürburgring ist die Mutter aller Rennstrecken. Keine ist schöner, keine länger, keine anspruchsvoller als die Nürburgring Nordschleife. Ich erinnere mich sehr gerne an Siege in der DTM und in der Formel 1 und auch an 24-Stunden-Rennen hier als aktiver Rennfahrer. Wer Motorsport liebt, liebt den Nürburgring.

FRED CORDES: Wann haben Sie zuletzt in einem Rennauto gesessen und dessen Steuerung übernommen?

NORBERT HAUG: Sehr selten, seit ich 2013 bei Mercedes- Benz nach 22 Jahren meine Zeit als Motorsportchef beendet habe. Zuvor fuhr ich zahlreiche Rennfahrzeuge, sowohl in meiner Zeit als Journalist, als auch danach in meiner Mercedes-Zeit und dabei sogar die legendären Silberpfeile aus den 30er- und 50er-Jahren, was ein besonderer Genuss war.

FRED CORDES: Wie muss eine perfekte Rennstrecke beschaffen sein, damit diese für Fahrer beherrschbar ist und zugleich für Zuschauer spannend bleibt?

NORBERT HAUG: Die Grand-Prix-Strecke des Nürburgrings, die 1984 eröffnet wurde, ist hierfür ein durchaus gelungenes Beispiel. Es gab hier grandiose DTM- und Formel-1-Rennen, welche die Zuschauer von den Sitzen rissen. Und zur Formel 1 kamen in den besten Zeiten von Ende der 90er- bis Mitte der 2000er-Jahre meist mehr als 100 000 Zuschauer.

FRED CORDES: Vom Journalisten zum Motorsportchef von Mercedes-Benz: Als Rennwagenfahrer ins Cockpit wollten Sie nie. Warum eigentlich nicht?

NORBERT HAUG: Dazu war ich sicher nicht gut genug. Zwischen gut fahren und sehr gut fahren existiert ein großer Unterschied, auch wenige Sekunden pro Rennrunde sind in der Praxis Lichtjahre. Erfolgreiches Rennfahren in Spitzenkategorien ist heute nur für absolut durchtrainierte Athleten möglich. 

FRED CORDES: Was fasziniert Sie bis heute am Motorrennsport?

NORBERT HAUG: Motorsport hat alles: Er lehrt Demut, schafft bei Siegen unbändige Freude, formt Teamgeist, zwingt dich zum steten Weiterlernen und kritischen Hinterfragen und bringt dir bei, dass nichts so alt ist wie der Erfolg von gestern. Alles Lehren, die auch im Geschäftsleben ausgesprochen wertvoll sind.

FRED CORDES: Was ist erfolgsentscheidend in der Formel 1: die Technik der Autos oder das höchste Budget?

NORBERT HAUG: Wer beides hat, ist vorn. Wer das notwendige Budget nicht zur Verfügung hat, wird die beste Technik nicht darstellen können. Aber: Geld kauft so wenig Siege wie es beim Fußball Tore schießt. Es muss eine gesunde Mischung aus realistischem Anspruch, unbändigem Willen, entsprechendem Können und den notwendigen finanziellen Mitteln sein.

FRED CORDES: Sie waren über 20 Jahre lang das Gesicht des Motorsport-Engagements von Mercedes- Benz und haben die Ära der Silberpfeile geprägt. Was war Ihr Erfolgsgeheimnis?

NORBERT HAUG: Spaß an der Arbeit. Der Wille, Gas zu geben, spät zu bremsen und dabei nicht aus der Kurve zu fliegen. Eine wunderbare Rezeptur, die ich auch für das Geschäftsleben wärmstens empfehlen kann, die aber nur der- oder diejenige umsetzen wird, der seine Aufgaben liebt und in ihnen aufgeht. Wer dabei nicht mit Niederlagen umgehen lernt und die richtigen Schlüsse aus ihnen zieht, wird keine Siege erringen.

FRED CORDES: Welche Eigenschaften sind nötig, um Woche für Woche Rennen zu gewinnen und dann Formel-1-Weltmeister zu werden?

NORBERT HAUG: Bei Siegen ist unbändige Freude sehr wichtig – aber dabei auf dem Boden zu bleiben ist noch wichtiger. Ein stetes Hinterfragen, das in ein permanentes Verbesserungsprogramm mündet, ist die Basis für weitere Erfolge. Und: Zusammenhalt  und gute Stimmung leisten mehr als der stärkste Motor und schlechte Stimmung. Niederlagen müssen in konstruktiven Vortrieb umgesetzt werden, sonst fährt man unter ferner liefen.

FRED CORDES: Was ist schwieriger, zu gewinnen oder zu verlieren?

NORBERT HAUG: Verlieren. Am Wettbewerb, ein guter Verlierer zu sein, mochte ich nie teilnehmen. Benimm und Respekt vor dem besseren Gegner bei eigenen Niederlagen sind dennoch absolut essentiell. Wer mit Niederlagen nicht umgehen kann, kann das auch mit Siegen nicht und wird in der Folge weniger Erfolg haben.

FRED CORDES: Was war Ihr schönster Sieg, Ihre größte Niederlage und um welchen Titel haben Sie am härtesten kämpfen müssen?

NORBERT HAUG: Das lässt sich nicht schlüssig sagen. Der erste Sieg in der Formel 1 im Jahr 1997 beim Großen Preis von Australien mit David Coulthard in unserem McLarenMercedes war großartig, genauso der erste WM-Titelgewinn ein Jahr später mit Mika Häkkinen und unser Sieg bei den 500 Meilen von Indianapolis 1994 mit dem PenskeMercedes und Al Unser jr. Eine üble Niederlage besorgten wir uns 2007 selbst, als unsere Fahrer Lewis Hamilton und Fernando Alonso beide jeweils einen Punkt Rückstand auf Weltmeister Kimi Räikkönen hatten – aber ein Jahr später holte Lewis Hamilton den Weltmeistertitel mit einem Punkt Vorsprung.

FRED CORDES: Sie kennen Lewis Hamilton seit er ein Teenager war und haben ihn gefördert. Woran haben Sie erkannt, dass er ein großes Talent ist und woran machen Sie ein Talent fest?

NORBERT HAUG: Eben an den gerade beschriebenen Eigenschaften. Lewis brannte damals wie heute lichterloh für seine Sache und ging und geht dafür immer die Extrameile. Dies, gepaart mit kompetentem Team, bester Technik und bestem Teamplay sind Grundlagen für seinen und den Erfolg von Mercedes in der Formel 1. 

FRED CORDES: Wie gingen Sie mit Rückschlägen um und was empfehlen Sie Zeppelin Mitarbeitern, wenn sie einen Auftrag verlieren, damit umzugehen?

NORBERT HAUG: Umfallen ist nicht schlimm; nicht schnell wieder aufstehen und nicht entschieden voranzumachen dagegen schon. Niederlagen haben mehr Lernpotenzial als Siege, was natürlich nicht heißt, dass Niederlagen über Siege gehen. Aber wer aus Niederlagen nichts lernt, rennt Siegen ewig hinterher. Das ist in der Arbeitswelt kein Haar anders als im Motorsport.

Norbert Haug und Fred Cordes

FRED CORDES: In einem Interview sagten Sie: Für den Motorsport braucht man ein ganz besonderes Verständnis als Manager. Welches?

NORBERT HAUG: Ich glaube felsenfest, dass die Fähigkeit, sich in den Kollegen, den Gesprächspartner und dessen Belange hineinzuversetzen der Schlüssel zum konstruktiven Miteinander ist. Wir sehen sehr gern oft nur oder überwiegend unsere eigenen Belange und erreichen deshalb unseren Gesprächspartner gar nicht oder nur unvollständig. Sensibilität, wie sie der Motorsport lehrt, ist sicher ein exzellentes Managementtraining.

FRED CORDES: Nach welchen Kriterien stellt man als Motorsportchef ein Motorsportteam zusammen?

NORBERT HAUG: Nach dem Strahlen in den Augen des Gegenübers. Wer selbst nicht brennt, kann kein Feuer der Begeisterung entfachen. Und ohne Begeisterung entsteht kein Speed und ohne Speed und Kompetenz kein Sieg.

FRED CORDES: Ihr Nachfolger bei Mercedes, Toto Wolff, nimmt sich die Römer als Vorbild, um sich zu Höchstleistungen anzuspornen, weil er nicht so enden will wie diese: Den Römern seien vor allem die ebenbürtigen Gegner ausgegangen. Dann wurden sie nachlässig. Und weil es nichts mehr zu erobern gab, sie in Selbstzufriedenheit zerfielen, zerfiel das Römische Reich. Welche Vorbilder hatten Sie und wie wichtig sind Vorbilder, um Ziele zu erreichen?

NORBERT HAUG: Ich war damals nicht dabei, weiß aber sehr wohl, was Toto meint: Werde nie selbstzufrieden,  fordere dich selbst bis aufs Äußerste, sei ein Vorbild, das alles gibt und Verständnis auch für Schwächen aufbringt und hilft, diese auszumerzen. Ich hatte nicht die Römer als Vorbild, aber die gleichen Werte wie Toto, und ich bin sicher, dass das Mercedes-Grand-Prix-Team mit Toto an der Spitze diese besser umsetzt als je jemand zuvor in der Geschichte der Formel 1. Die Erfolgsserie dieser Mannschaft ist einmalig und unübertroffen.

FRED CORDES: Wo sehen Sie Parallelen zwischen den Aufgaben, ein Motorsportteam und ein Vertriebsteam zum Erfolg zu führen?

NORBERT HAUG: Wille und Freude sind da wie dort Grundvoraussetzungen. „Morgen muss ich schon wieder zum Rennen“ ist genauso ein Misserfolgsgarant wie „Morgen muss ich schon wieder zum Kunden.“ Wer nicht will, sollte nicht müssen und sich besser um für ihn lösbare Aufgaben kümmern.

Norbert Haug und Fred Cordes

FRED CORDES: Wie wichtig ist die Rolle als Team und wer hat davon den wichtigsten Anteil am Erfolg: die Ingenieure, welche die Autos konstruieren, der Fahrer oder die Mitarbeiter, welche die Reifen beim Boxenstopp wechseln?

NORBERT HAUG: Jeder ist so wichtig wie der andere. Das oft zitierte Beispiel vom Uhrwerk, bei dem das kleinste Schräubchen so sehr zum Nichtfunktionieren führen kann wie das größte und teuerste Teil, passt perfekt. Das schnellste Auto, das beim Boxenstopp unnötig Zeit verliert, wird das Rennen nicht gewinnen – der beste Boxenstopp nutzt wenig, wenn die Rundenzeiten vorher und nachher nicht konkurrenzfähig sind.

FRED CORDES: Wie haben Sie sich und Ihr Team immer wieder zu neuen Zielen im Motorsport motiviert?

NORBERT HAUG: Das ist ganz einfach: Alle wollen nur das Eine.

FRED CORDES: Beim Motorsport kann schon ein kleiner Fehler viel Geld oder sogar Leben kosten. Wie hoch ist der Anspruch, hundertprozentig perfekt zu funktionieren?

NORBERT HAUG: Hundertprozentig geht nie und nirgendwo. Aber wer an die 99 Prozent schafft, ist in der Regel unschlagbar. Wer bei Fehlern als Chef den Scharfrichter spielt, wird als Resultat der Grund für mehr Fehler sein. Wer behutsam, präzise und konstruktiv mit dem Verursacher analysiert, schafft die Basis zur besseren Leistung.

FRED CORDES: Trotz aller Vorsicht: Motorrennsport ist und bleibt gefährlich. Beim Formel-2-Rennen im belgischen Spa-Francorchamps kam letzten Sommer der Franzose Anthoine Hubert infolge eines schweren Unfalls ums Leben. Wie geht man mit Gefahren um?

NORBERT HAUG: Es wurden ganz immense Fortschritte in der Sicherheit erzielt, sowohl bei den Fahrzeugen als auch bei den Rennstrecken. Die absolute Sicherheit wird es indes bei der Fortbewegung leider nicht geben – nicht auf der Dreisprossen-Küchenleiter, nicht auf dem Fahrrad, nicht auf dem E-Scooter und bei allen Bemühungen auch nicht im Motorsport.

FRED CORDES: Können Sie sich für die Elektro-Rennserie Formel E begeistern oder geht durch die Elektromotoren und mit dem Wegfallen des Motorröhrens eine wesentliche Identifikation verloren? NORBERT HAUG: Ich kann mich für alles begeistern, das die Interessierten begeistert, das Sinn macht und das vom Publikum positiv aufgenommen wird.

FRED CORDES: Wie sehen Sie die Zukunft des Motorsports angesichts der Klimaschutzdiskussion?

NORBERT HAUG: Ich denke, dass der Motorsport insgesamt da keinen Vergleich mit anderen Massensportarten scheuen muss. Wer Formel 1 im Fernsehen schaut, fährt in dieser Zeit kein Auto und pro Rennen verfolgen noch immer viele Millionen Menschen auf der ganzen Welt die Formel 1 im Fernsehen. Es gibt pro Wochenende alleine in Deutschland in der ersten und zweiten Bundesliga fast so viele Veranstaltungen mit der Größenordnung von bis zu 50 000 Zuschauern und mehr wie in der Formel 1 im ganzen Jahr. Und erfreulicherweise verpesten Motorsportbesucher auch nie und nirgendwo auf der ganzen Welt die Luft und die Atmosphäre mit Pyro-Attacken.

Norbert Haug und Fred Cordes

März/April 2020