„Die Sünden unserer Wegwerfgesellschaft”

Pro Jahr werden in Deutschland rund 400 Millionen Tonnen Abfall entsorgt. Mehr als die Hälfte ist Bauschutt. Dass eine Wirtschaft ohne Müll prinzipiell möglich ist, zeigt der Cradle-to-Cradle-Ansatz. Im Interview erläutert Karsten Jurkait, Associate Director vom Planungs- und Beratungsbüro Arup Deutschland, warum Cradle to Cradle (C2C) nicht nur einen Mehrwert für die Umwelt bietet.

Für Karsten Jurkait, Associate Director der Arup Deutschland GmbH, bietet Cradle to Cradle sowohl einen ökologischen als auch einen ökonomischen Mehrwert. Foto: fotodimatti

Baublatt: Was verstehen Sie denn unter dem Cradle-to-Cradle-Prinzip?

Karsten Jurkait: Eines der Ziele von Cradle to Cradle ist eine abfallfreie Wirtschaft, in der keine gesundheits- und umweltschädlichen Materialien mehr verwendet werden. Sämtliche Produkte werden so entworfen, dass ihre Bestandteile entweder biologisch abbaubar sind oder sortenrein getrennt und dadurch uneingeschränkt wiederverwertet werden können. Weitere Grundsätze sind der Einsatz regenerativer Energien in Herstellung und Betrieb sowie Vielfältigkeit. Postuliert wurde der Ansatz in den 90er-Jahren von Professor Michael Braungart, Gründer der Environmental Protection Encouragement Agency (EPEA), sowie dem Architekten und Designer William McDonough. In unserem Experten-Podcast spreche ich dazu mit zwei Gästen, die beide sehr eng mit den C2C-Gründern verbunden sind: Nora Sophie Griefahn, Vorständin und Mitgründerin der Cradle to Cradle NGO sowie Tochter von Michael Braungart, und Edwin Meijerink, Geschäftsführer der Delta Development, die mehrere ihrer Projekte mit dem Architekturbüro von William McDonough realisiert hat.

Baublatt: Laut Angaben des Statistischen Bundesamtes werden 81 Prozent des Müllaufkommens wiederverwertet. Das ist doch eigentlich keine schlechte Quote?

Karsten Jurkait: Auf den ersten Blick schon. Aber wenn wir ehrlich sind, ist das, was man heute unter Recycling versteht, eigentlich ein Downcycling bei dem das Problem einfach nach hinten verschoben wird; Bauschutt wird beispielsweise meistens als Füllgut verwendet, für das es danach keine weitere Verwendung mehr gibt – ein echtes Recycling ist das nicht. Wenn wir uns den baulichen Bestand ansehen, haben wir dort mit 51,7 Milliarden Tonnen Baumaterialien theoretisch unser größtes Rohstofflager; stattdessen importieren wir diese Rohstoffe immer wieder neu. Würden wir die Materialien beim Abbruch konsequent wiederverwenden – wie da heute teilweise schon mit Metallschrott im Bau geschieht – würde der jährliche Bedarf an Rohstoffen deutlich sinken.

Baublatt: Wie könnte eine Bauindustrie aussehen, in der kein Bauschutt mehr anfällt?

Karsten Jurkait: Bauprojekte würden ausschließlich aus recycelbaren und recycelten Rohstoffen bestehen. Alle im Gebäude verwendeten Materialien wären so geplant und verbaut, dass sie am Ende der Nutzungszeit wieder als Ausgangsstoff für neue Bauteile genutzt werden könnten. Sämtliche Materialien wären Teil eines geschlossenen Stoffkreislaufs, bei dem kein Abfall im herkömmlichen Sinn mehr entsteht. Ähnlich dem Energieausweis würde jedes Gebäude einen Materialpass erhalten, der Auskunft über die Beschaffenheit, Verwendbarkeit, Verortung und den möglichen Rückbau der verwendeten Baustoffe gibt. Gebäude wären am Ende des Lebenszyklus
ein Rohstofflager, was völlig neue Geschäftsmodelle eröffnen würde.

Baublatt: Sie sprechen im Konjunktiv, was vermuten lässt, dass wir noch weit von geschlossenen Stoffkreisläufen entfernt sind?

Karsten Jurkait: Das ideale Cradle-to-Cradle-System basiert auf einer zu hundert Prozent erneuerbaren Energieversorgung. Laut Statistischem Bundesamt sind wir in Deutschland aktuell bei 54,5 Prozent. Nimmt man die Recyclingquote von 70 Prozent hinzu, haben wir zwar schon einen großen Schritt nach vorne gemacht, aber auch noch einen langen Weg vor uns. Nichtsdestotrotz ist heute schon viel mehr möglich als man denkt. Angefangen von Recyclingbaustoffen sowie kreislauffähigen und gesunden Innenraummaterialien über regenerative Energie sowie Wasser- und Luftbehandlung bis hin zu begrünten Dächern und Fassaden.

Baublatt: Besonders schwierig erscheint die Umsetzung des Cradle-to-Cradle-Ansatzes im Bereich der technischen Gebäudeausrüstung?

Karsten Jurkait: Das ist richtig. Im Roh- und Innenausbau wird der C2C-Ansatz bereits in einigen Projekten umgesetzt. Im Bereich der Gebäudetechnik ist er eher noch Neuland, was es für Ingenieure schwierig macht, C2C-inspirierte Planungen zu entwickeln. Um diese Lücke zu schließen, hat Arup einen Leitfaden für die Umsetzung des Cradle-to-Cradle-Konzepts in der technischen Gebäudeausrüstung entwickelt, der Architekten und Ingenieure dabei unterstützt, C2C-Prinzipien in die Planung der Gebäudetechnik zu integrieren. Er umfasst alle Gewerke der technischen Gebäudeausrüstung und ist damit eine umfassende Orientierungshilfe für den gesamten Planungsprozess – von der Grundlagenermittlung und Systemauswahl bis hin zur Auswahl geeigneter Materialien.

Baublatt: Bislang gibt es noch kein Immobilienprojekt, bei dem das Cradle-to-Cradle-Prinzip durchgängig umgesetzt wurde. Welche Projekte kommen aus Ihrer Sicht der C2C-Vision am nächsten?

Karsten Jurkait: Wer über Cradle to Cradle in der Immobilienwirtschaft spricht, kommt um das grüne Rathaus der niederländischen Stadt Venlo nicht herum. Es gilt als Vorzeigeprojekt, weil die C2C-Prinzipien hier am konsequentesten umgesetzt wurden. Verbaut wurden fast ausschließlich C2C-zertifizierte Materialien, die Stromversorgung erfolgt weitestgehend über Solarpaneele, Wärmepumpen liefern die benötigte Heizenergie, eine pflanzliche Kläranlage macht das Brauchwasser für die Bewässerung der Grünflächen nutzbar, die begrünte Fassade reinigt die Luft, bindet CO2 und dient als Biotop für über hundert Flora- und Fauna-Arten.

Baublatt: In der Arup-Podcast-Folge „Bauen nach dem Cradle-to-Cradle-Prinzip“ diskutieren Sie über die Chancen und Herausforderungen von C2C für die Bau- und Immobilienwirtschaft. Die größte Herausforderung liegt vermutlich in den höheren Kosten?

Karsten Jurkait: Nicht unbedingt. Hersteller, die ihre Produktpalette komplett auf C2C umgestellt haben, hatten lediglich in der Entwicklungsphase höhere Kosten. Projektentwickler, wie Delta Development, die bereits seit 2008 Büroprojekte nach dem Cradle-to-Cradle-Prinzip realisieren, haben die Erfahrung gemacht, dass die etwas höheren Kosten von Bauherren und Nutzern in Kauf genommen werden, weil die Gebäude auch Mehrwerte bieten. So sind die Mitarbeiter, die in C2C-Gebäuden arbeiten, seltener krank, höher motiviert und damit deutlich leistungsfähiger. Ein anderer Aspekt sind die Rückbaukosten, die bei normalen Gebäuden nicht unerheblich sind. Kreislauffähige Gebäude sind Materialbanken, die im Idealfall komplett wiederverwendet werden können. Dies eröffnet völlig neue Geschäfts- und Finanzierungsmodelle.

November/Dezember 2020